"Ciao Stefano. Ich bin Papst Franziskus. Du kannst mich duzen." Der Student Stefano Cabizza in der kleinen Ortschaft Camin bei Padua glaubte zunächst an einen üblen Scherz, als er den Anruf des Papstes erhielt. Der 19-Jährige hatte dem Kirchenoberhaupt eine Woche davor einen Brief geschrieben. Die Kommunikationsstrategie des argentinischen Papstes wirft liebgewonnene vatikanische Traditionen gleich haufenweise über Bord. Jorge Mario Bergoglio hält nichts von der vornehmen Zurückhaltung seines Vorgängers Joseph Ratzinger. Er hat viel mitzuteilen und praktiziert das mit schlafwandlerischem Instinkt. Kritischen Fragen weicht er nicht aus, er fordert sie heraus.
Letzte Woche fuhr Franziskus wieder in seinem Ford Focus durch Rom - ohne Eskorte. Sein Ziel: das von den Jesuiten geführte Migrantenzentrum Astalli unweit des Kapitols. „Integration ist ein Recht der Flüchtlinge", so der Papst, der einmal mehr mit einer überraschenden Ankündigung aufwartete: Leerstehende Klöster sollen künftig Flüchtlingen als Unterkunft dienen. Nun hat der Papst klargemacht, dass es ihm mit dem Kurswechsel bei Fragen der Sexualmoral ernst ist. In einem weitreichenden Interview wagte sich Franziskus weit vor . Die Kirche dürfe sich nicht mehr ständig mit Fragen der Sexualmoral beschäftigen und müsse sich verschiedenen gesellschaftlichen Schichten viel weiter öffnen als bisher.
„Wir können uns nicht nur mit der Frage der Abtreibung befassen, mit homosexuellen Ehen, mit Verhütungsmethoden" , sagt er. Die Kirche sei ein „Haus für alle" und nicht nur eine "kleine Kapelle" , die sich mit Doktrin, Orthodoxie und einigen wenigen moralischen Lehren beschäftigen dürfe. Wenige Tage vorher rieben sich konservative Kurienvertreter beim Lesen des spröden Vatikanblattes Osservatore Romano die Augen, als sie gleich mehrere Beiträge des peruanischen Befreiungstheologen Gustavo Guttiérez entdeckten. Letzte Woche erhielt die linksliberale römische Tageszeitung La Repubblica unerwartete Post aus dem Kirchenstaat. In einem persönlichen Schreiben an Chefredakteur Eugenio Scalfari antwortete der Papst auf acht Fragen über die moralische Verantwortung von Agnostikern.
Das Staunen war noch nicht verebbt, da sorgte der letzthin von Bergoglio zum Staatssekretär bestellte Pietro Parolin für neues Aufsehen: Der Zölibat sei weder ein Dogma noch ein Gesetz göttlichen Ursprungs und so offen für Diskussion. Damit stößt der 58-jährige Kirchendiplomat ein Thema an, das in der römischen Kurie unter Joseph Ratzinger als erledigt galt. Es gilt als wahrscheinlich, dass der Vorstoß des zukünftigen Staatssekretärs mit Franziskus abgesprochen war. Ob Parolins unerwartete Initiative eine mögliche Änderung der Zölibatspflicht andeutet, bleibt allerdings fraglich. Die Tonart der zukünftigen Nummer zwei der Kirchenführung stellt einen deutlichen Bruch mit dem Stil seines umstrittenen Vorgängers Tarcisio Bertone dar: „Neben der Treue zum Willen Gottes und zur Geschichte der Kirche ist auch Offenheit für die Zeichen der Zeit nötig." Zu diesen Zeichen rechnet Parolin offenbar auch den wachsenden Priestermangel.
Durch seine Weigerung, in die päpstlichen Gemächer im Apostolischen Palast zu ziehen, hat sich der Papst eine bisher unvorstellbare Unabhängigkeit gesichert. Der Vatikan hat Mühe, den genauen Wortlaut seiner Stegreif-Predigten zu veröfentlichen. In der Mensa des Gästehauses Santa Marta trägt Franziskus sein Tablett selbst. Dem Schweizer Gardisten vor seinem Zimmer schiebt er oft einen Stuhl vor die Tür. Nach Brasilien flog der Papst erstmals in einer Linienmaschine, innerhalb des Vatikans fährt er mit einem alten Renault 4, den ihm ein Pfarrer aus Verona geschenkt hat. Die gepanzerten Limousinen stehen seit seinem Dienstantritt in der Garage.
Nimmt man den Zulauf der Gläubigen am Petersplatz als Gradmesser, hat der neue Papst das Rennen bereits gewonnen. Nach der Generalaudienz am letzten Mittwoch verweilte Bergoglio über eine Stunde in der drängenden Menge, schüttelte Hände und ließ sich lachend umarmen - ein Papst zum Anfassen. Mit Spannung wird nun seine Rede in Assisi am 4. Oktober erwartet, bei der sich Franziskus einem Lieblingsthema widmen wird: der Entäußerung der Kirche von materiellen Werten. Nur zehn Tage später treten gleichzeitig mit Staatssekretär Bertone die zwei Leiter der vatikanischen Vermögensverwaltung Apsa zurück, die über tausende Immobilien verfügt und die Wertpapiere des Kirchenstaates betreut. Dann ist der Weg frei für eine Reform, deren Zielvorgabe der Papst in gewohnt bildhafter Formulierung schon vorgezeichnet hat: „Auch der heilige Petrus verfügte über kein Bankkonto."