Society | Interview

"Verstehen, wohin wir gehen"

Was macht eigentlich eine Mumienforscherin? Die Biologin Valentina Coia erforscht die jene Bevölkerung, die sich vor rund 5.000 Jahren den Alpenraum mit Ötzi teilte.
Ötzi
Foto: Othmar Seehauser

Nach 30 Jahren intensiver Forschung am Eismann, konnten bereits viele Erkenntnisse gewonnen werden. Gleichzeitig öffnen sich immer wieder neue Türen und Forschungsmöglichkeiten. Einen dieser Wege beschreitet die Biologin Valentina Coia. Sie forscht am Institut für Mumienforschung der EURAC die Genom-Vielfalt prähistorischer Personen in Ötzis Umgebung. Salto.bz hat mit der Forscherin über Ihre Arbeit gesprochen, die beim Ötzi-Symposium der EURAC präsentiert wird.

 

Salto.bz: Frau Coia, Sie sind Mumienforscherin am Forschungsinstitut EURAC. 30 Jahre nach dem Fund von Ötzi wurden eine Unmenge an Erkenntnissen gewonnen. So wurde eine Laktoseintoleranz diagnostiziert, seine Augenfarbe (braun) bestimmt und Karies an seinen Zähnen entdeckt. Reine Kuriositäten oder wissenschaftliche Erkenntnisse mit aktueller Relevanz?

Valentina Coia: Die Erkenntnisse, die gewonnen wurden, sind von grundlegender Bedeutung für das Studium der menschlichen Evolution. Neben der Kuriosität, Ötzis Aussehen zu rekonstruieren, bietet sein Körper eine Fotografie des menschlichen Körpers im späten neolithischen Zeitalter in den Alpen. Zusammen mit anderen Funden kann Ötzi Auskunft über die Bevölkerung in Europa in diesen Jahren geben.

Sind dies Fragen, mit denen Sie sich in Ihrer eigenen Forschung beschäftigen?

Ich kümmere mich vor allem um die Erforschung von menschlichen Überresten aus Ötzis Zeit, die in derselben Gegend gefunden wurden. Ich versuche also den Eismann in einen genetischen Kontext der alpinen Bevölkerung einzubetten. Wir haben schon 2012 erkannt, dass das Genom der Mumie, dem der sardischen Bevölkerung ähnelt. Ötzi war der erste Fund dieser Art, der als solche erkannt wurde. Später kamen weitere Funde aus ganz Europa hinzu, die ähnliche Eigenschaften aufweisen. Diese Erkenntnis hat eine enorme Debatte über die Entwicklung von Europas Bevölkerung seit dem neolithischen Zeitalter ausgelöst. Der spezifische Genotyp im alpinen Bereich ist aber noch untererforscht; Ötzi ist zwar ein unglaublich wichtiger Fund, bleibt aber ein Einzelfall. Unser Projekt, das von der Provinz Bozen finanziert wird, kümmert sich darum, den Umfang der Stichproben zu erweitern.

 

Im Felsenbein kann die DNA eines Menschen noch nach Jahrtausenden erforscht werden.

 

Wie können wir uns diese Funde vorstellen?

Es handelt sich um 50 Fundstücke aus 19 verschiedenen archäologischen Fundstätten in Südtirol und dem Trentino. Die Fundstücke belaufen sich auf einen Zeitrahmen, der von der Steinzeit bis zur Kupferzeit reicht. Dabei haben wir uns vor allem auf jene Funde konzentriert, bei denen das Felsenbein, ein Knochen im Ohr des Menschen noch erhalten war. Darin kann die DNA eines Menschen noch nach Jahrtausenden erforscht werden. Im Moment wurde nur ein erstes Screening zur DNA-Qualität durchgeführt, das sehr gute Ergebnisse geliefert hat. Hier wird unsere Forschung in Zukunft anknüpfen.

Um noch mal zur Frage der Sarden zurückzukommen: Stammen Ötzi und seine Zeitgenossen in den Alpen von den Sarden ab?

Nein, nein, nein (lacht). Es geht eher darum, dass die genetischen Merkmale der (süd)europäischen Bevölkerung im Laufe der Jahre “verwässert” wurden, während sie in Sardinien – einer Insel – für einen längeren Zeitraum erhalten bleiben konnten. Unsere Forschung wird nun auch dazu dienen, die verschiedenen prähistorischen Bevölkerungsgruppen zu vergleichen, jene der Alpenvölker und jene der Sarden beispielsweise.

 

So wie uns die Geschichte dabei hilft, die Gegenwart zu verstehen und zu verstehen, wohin wir gehen wollen, kann auch die anthropologische und biologische Geschichte wichtige Aufschlüsse darüber enthalten.

 

Inwiefern zeigt sich die Relevanz dieser Erkenntnisse auch für die heutige Zeit?

Wir können ein Bild davon gewinnen, wie die europäische Bevölkerung im Neolithikum aussah und wie und wann sich die verschiedenen Bevölkerungsgruppen über Europa verteilten. Die genetische Basis der alpinen Bevölkerung zu kennen kann zudem Auskunft über verschiedene Krankheitsbilder geben, wie beispielsweise Ötzis Laktoseintoleranz. Ich bin aber überzeugt – und das ist der Grund, warum ich diese Art von Forschung betreibe –, dass die anthropologische und biologische Geschichte der Bevölkerungen in sich selbst wertvoll ist. So wie uns die Geschichte dabei hilft, die Gegenwart zu verstehen und zu verstehen, wohin wir gehen wollen, kann auch die anthropologische und biologische Geschichte wichtige Aufschlüsse darüber enthalten.