Society | Sanität

"Diese Schreierei ist der Wahnsinn"

Sollen wir kleine Geburtenstationen retten, wenn das Geld für Krebstherapien ausgeht? Der Bozner Primar Klaus Eisendle bricht eine Lanze für die Gesundheitsreform.

Herr Dr. Eisendle, dürfen wir überhaupt miteinander sprechen – angesichts des Maulkorberlasses Ihres neuen Generaldirektors? 
Klaus Eisendle:
Ich brauche keinen Maulkorb, ich finde es teilweise wirklich ungerecht, wie derzeit auf die Chefitäten eingedroschen wird. Das was aktuell gemacht wird, ist leider einfach notwendig. Die ganze Schreierei rundherum finde ich deshalb einen totalen Wahnsinn. Ich vermisse in dem Ganzen eine sachliche Diskussion. 

Worüber zum Beispiel? 
Zum Beispiel über die Geburtenabteilungen. Wir haben in Südtirol immer weniger Geburten und immer mehr alte Leute. Natürlich brauchen wir keine sieben Geburtenstationen mehr.  Dennoch versuchen sich ein paar Politiker mit dem Thema zu profilieren – auf Kosten der Sicherheit von Kindern. Denn wenn wir die kleinen Geburtenabteilungen mit einem Auto vergleichen, dann mögen sie zwar fahren. Aber sie haben keinen Airbag, keinen Sicherheitsgurt und kein ABS. Das heißt in schwierigen Situationen kommt es ohne ABS schnell zu einem Unfall.  Und wenn der eintritt, ist sofort ein schwerer Schaden da. Denn jede Minute, in der ein Neugeborenes keinen Sauerstoff bekommt, erhöht den Schaden enorm.

Doch wie erst kürzlich wieder betont wurde, haben auch unsere kleinen Geburtenstationen gute Statistiken... 
Ja, aber da muss man aufpassen, denn die schwierigen Fälle werden schon von vornherein nach Bozen geschickt. In den Kleinkrankenhäusern werden dagegen nur Geburten mit Niederrisiko durchgeführt.

„Seien wir ehrlich: 240.000 Euro ist nun wirklich kein schlechtes Gehalt. Ich zum Beispiel bekomme 144.000 Euro.“

Doch auch risikoarme Geburten können zu Risikogeburten werden.
Ja, und da wird es interessant: Wir haben in Bozen dieselbe Komplikationsrate wie in anderen Häusern.  Das ist sehr bedenklich. Denn wenn man mit einer niederen Risikorate die gleiche Komplikationsrate hat wie ein Haus, das die gesamten Risikogeburten durchführt, dann muss man aufpassen. Das gleiche gilt für onkologische Zertifizierungen: Es gibt einfach internationale Daten, die belegen, dass es in zertifizierten Zentren höhere Überlebensraten gibt. Das hat einfach Hand und Fuß und ist im Rest von Europa schon längst Realität.

Ihre Kollegen in der Peripherie behaupten aber vielfach das Gegenteil.
Darüber brauchen wir nicht lange zu streiten, denn es gibt objektive Daten und europäische Sicherheitsstandards und die sind einfach zu erfüllen. Dass man darüber auch nur diskutieren muss, ist absurd. Genauso absurd wie das Schüren von Ängsten, dass die kleinen Krankenhäuser geschlossen werden. Das stand nie zur Diskussion und steht schon allein volkswirtschaftlich außer Frage. Vor allem brauchen wir viel mehr Versorgung für alte und chronisch kranke Leute.

Auch Sie sind jedoch mit Ihren Zusatzausbildungen und Ihrer zwanzigjährigen Auslandserfahrung nicht nach Innichen oder Sterzing, sondern nach Bozen gegangen, als Sie wieder nach Südtirol zurückgekehrt sind. Können diese Spitäler langfristig ohne angesehene Spezialisten überleben? Oder würden Sie sie ohnehin in Geriatriezentren umwandeln?
Diese Spitäler werden langfristig ohne angesehene Spezialisten überleben müssen, weil wir in ganz Europa einen Fachärztemangel haben. Und wie gesagt: Wir brauchen dringend viel mehr Ressourcen für die Versorgung von alten und chronisch kranken Leuten. Wobei die Entwicklung auch in die Richtung geht, Krankenhaus-Betten zu reduzieren und die Versorgung direkt nach Hause zu verlegen.

"Die Zwei-Klassen-Medizin hat es immer gegeben, und es ist ein Märchen zu behaupten, dass wir keine haben. Da kann ich genauso sagen, der real existierende Kommunismus ist super und lebt."

Wie wirkt es auf den Fachärztemangel in Südtirol, wenn Ärztegehälter plötzlich bei 240.000 Euro gedeckelt werden?
Also, das würde ich jetzt schon differenziert betrachten. Erstens sind von dieser  240.000-Euro-Grenze ohnehin nur die alten Verträge betroffen. Und seien wir ehrlich: 240.000 Euro ist nun wirklich kein schlechtes Gehalt. Ich zum Beispiel bekomme 144.000 Euro. Der große Unterschied zum Ausland sind nicht die Grundgehälter. Die betragen zum Beispiel in Österreich auch nur 150.000 bis maximal 200.000 Euro. Doch dort haben die Ärzte die Möglichkeit, viel mehr privat zu machen.

In Südtirol dürfen Sie dagegen nur drei Stunden die Woche privat arbeiten?
Ja. Und diesbezüglich würde ich wirklich eine Anpassung nahelegen. Vor allem die Möglichkeit, privat Operationen durchzuführen, würde eine Win-Win-Situation bringen. Denn da verdienen nicht nur die Ärzte, sondern auch das Krankenhaus, das die Struktur zur Verfügung stellt. Anderswo finanzieren sich manche Krankenhäuser vor allem durch solch private Leistungen. Außerdem würden sich die Wartezeiten verkürzen. Überstunden dürfen wir keine machen, doch wenn man auch privat arbeiten kann, haben alle etwas davon.

Zumindest jene Leute, die Geld haben. Willkommen in der Zwei-Klassen-Medizin?
Die Zwei-Klassen-Medizin hat es immer gegeben, und es ist ein Märchen zu behaupten, dass wir keine haben. Da kann ich genauso sagen, der real existierende Kommunismus ist super und lebt. Wir müssen heute einer Tatsache ins Auge sehen: Die Medizin hat solche Fortschritte gemacht und die Gesellschaft altert so sehr, dass es leider nicht mehr möglich ist, alles zu finanzieren. Und gerade deshalb finde ich Diskussionen darüber nicht angebracht, ob Patientinnen für eine Geburt die Fahrt von Sterzing nach Brixen zuzumuten ist. Denn gleichzeitig geht uns bald das Geld aus, um Krebspatienten zu behandeln.  

„Da wird man sich irgendwann fragen müssen: Will man 50.000 Euro zahlen, um jemanden das Leben für drei Monate zu verlängern? Sagt man vielleicht bei einem Familienvater Ja und bei einem 95-jährigem Nein?“

Ist das so?
Das könnte schon bald so sein. Krebs wird immer mehr zur chronischen Krankheit. Ein Tumorpatient im fortgeschrittenen Stadium, der die neuen zielgerichteten Therapien und Immuntherapien bekommt kostet im Durchschnitt schon über 100.000 Euro, bei längerer Überlebensrate können die Kosten auch bis 300.000 Euro steigen. In Zukunft wird rund ein Drittel der Bevölkerung an Krebs sterben, weil alle anderen Krankheiten immer besser heilbar werden. Da wird man sich irgendwann fragen müssen: Will man 50.000 Euro zahlen, um jemanden das Leben für drei Monate zu verlängern? Sagt man vielleicht bei einem Familienvater Ja und bei einem  95-jährigem Nein? Solche Fragen sind beinharte Realität. Und darüber sollte nicht ein Arzt allein entscheiden, darüber muss eine gesellschaftliche Diskussion geführt werden.  

Achtung, Sie kommen der Prothesenfrage gefährlich nahe, die Ihrem neuen Chef schon jede Menge Ärger eingebracht hat.
Ja, weil die Sachen auch immer so aus dem Kontext gerissen werden.  Doch was wahr ist: In Großbritannien bekommt man ab einem bestimmten Alter überhaupt keine Prothesen mehr.

Die Frage lautet: Ist das gut?
Ich will das nicht einmal werten. Ich will damit nur sagen: Dort hat man eine begrenzte Menge an Mitteln, und eine Kommission bestimmt, wie sie am besten eingesetzt werden. Und das gleiche wird in Südtirol früher oder später auch passieren müssen. Außer die Politik sagt: Wir können der Sanität jedes Jahr 100 bis 200 Millionen Euro mehr geben.

„Wenn wir die kleinen Geburtenabteilungen mit einem Auto vergleichen, dann mögen sie zwar fahren. Aber sie haben keinen Airbag, keinen Sicherheitsgurt und kein ABS. Das heißt in schwierigen Situationen kommt es ohne ABS schnell zu einem Unfall.  Und wenn der eintritt, ist sofort ein schwerer Schaden da.“

Nachdem das nicht passieren wird, müssen wir uns künftig fragen, ob wir allen Krebspatienten eine teure Behandlung gewähren?
Ich fürchte ja. Wobei hier aber auch ein gesellschaftlicher Druck auf die Pharmafirmen gemacht werden müsste. Denn die verlangen für Medikamente oft so horrend hohe Preise, dass es fast schon als Erpressung von Sozialsystemen bezeichnet werden muss. Es verlangt ja niemand, dass sie mit ihren tollen neuen Medikamenten keine Gewinne machen sollen. Doch wenn ich für eine Immuntherapie bei Melanomen für jede der vier Infusionen eines Behandlungszyklus 20.000 Euro zahle, bewegen wir uns nicht mehr auf einem realen Niveau. Dazu kommt noch, dass die Pharmaindustrie die profitabelste Branche überhaupt ist. Dort wird noch mehr Gewinn geschrieben als in der Waffenindustrie oder bei Banken. Das bedeutet dass niedere Medikamentenpreise sehr wohl für die Firmen verkraftbar wären.

Noch einmal zurück zu den hausgemachten Problemen unseres Sanitätssystems: Sie leiden als Primar der Bozner Dermatologie unter keiner der Baustellen, von denen täglich in den Medien zu lesen ist?
Natürlich haben auch wir Probleme. Was wirklich ungut war im vergangenen Jahr war zum Beispiel das Problem mit der Privacy. Nun kann man zumindest wieder arbeiten, auch wenn das Programm noch immer nicht optimal funktioniert. Das Wichtigste, das wir derzeit brauchen, ist sicherlich ein funktionierendes und einheitliches EDV-System für die ganze Provinz. Das muss absolute Priorität  haben. Die Programme, die heute auf dem internationalen Markt zu haben sind, erleichtern nicht nur die Arbeit sehr stark, sondern erhöhen auch die Patientensicherheit wesentlich. Und wenn ein einheitliches System erst einmal funktioniert,  können auch schwierige Fälle viel eher in der Peripherie behandelt werden, weil der Austausch garantiert ist. Dann können, wie es die Gesundheitsreform auch vorsieht, zum Beispiel Spezialisten-Teams in Brixen und Sterzing gebildet werden und auch dort schwere Fälle behandelt werden, was die Attraktivität der Standorte wieder deutlich steigern könnte. Das wäre für alle viel gewinnbringender als das heutige Kirchturmdenken.

Klaus Eisendle ist Primar der akademischen Lehrabteilung für Dermatologie, Venerologie und Allergologie im Krankenhaus Bozen. Er kehrte 2011 nach 20 Jahren im Ausland wieder nach Südtirol zurück. Eisendle ist habilitierter Mediziner und Naturwissenschaftler und hat ein internationales Studium in Gesundheitsmanagement absolviert (MBA in Health Care Management). Er unterrichtet Medizinstudenten, bildet Fachärzte aus und führt eine rege wissenschaftliche Zusammenarbeit mit der Uni-Klinik in Innsbruck und dem internationalen Health Care Management Institut der Universität Trier (D).

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Heinrich Tischler Wed, 10/21/2015 - 12:53

Drei Begebenheiten:
Vor 25 Jahren Vortrag von Prof. Margreiter über Organtransplantationen. Frage im Publikum: bis zu welchem Alter kann man das machen? Antwort: ich kann technisch auch über 90jährige operieren, ob das finanziell geht, muss die Politik entscheiden.
Sendung im Zdf, auch schon vor ca 20 Jahren: fiktive Frage: das Krankenhaus hat eine bestimmte Summe zur Verfügung, damit kann ich einem Menschen durch eine Transplantation möglicherweise das Leben retten, mit derselben Summe 50 Patienten durch eine Prothesenoperation die Lebensqualität durch die Schmerzerleichterung verbessern; wofür entscheiden Sie sich, wenn Sie entscheiden müssten?
Patient mit Lungenkrebs, ich frage nach der Überlebensrate bei Chemoterapie, die von einer Abteilung vorgeschlagen wurde. Der Onkologe fragt nach der Klassifizierung des Tumors und dagt dann: 2 Monate ohne Chemotherapie, 4 Monate mit Chemotherapie, man könnte aber auch sagen, ohne die Zeit zu nennen, eine 100prozentige längere Überlebensrate. Wenn jemand also nicht gut aufgeklärt wird, wird er der Chemotherapie wahrscheinlich zustimmen, was das kostet, wie die Qualität der restlichen Lebenszeit ist, und viele andere Fragen werden vielleicht verdrängt.
So einfach ist es nicht in der Sanität Entscheidungen zu treffen.
Nur ein Verwalter sagte einmal, die Sanität wäre recht einfach zu organisieren, wenn, ja wenn es nicht die Patienten gäbe.

Wed, 10/21/2015 - 12:53 Permalink
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Martin Daniel Sat, 10/24/2015 - 20:54

Nein, lieber Thomas, kein frischer kritischer Beitrag, sondern das Plädoyer eines Dermatologen, der Geburtenexperte spielt und seinem neuen, zentralistisch eingestellten Chef das Wort redet. Wessen Abteilung außer Diskussion ist (größtes Problem das Edv-Management), der braucht nicht den Ist-Stand zu verteidigen, sondern kann es sich leisten, an die Zukunft zu denken.

Sat, 10/24/2015 - 20:54 Permalink