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SHOPLIFTERS (Un Affare di Famiglia)

Der Träger der diesjährigen Goldenen Palme von Cannes stellt sich nun endlich dem Publikum. Kann der japanische Beitrag im Wettbewerb der Filmfestspiele überzeugen?
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Foto: GAGA Corporation

Die jährlich wechselnde Jury des Filmfestival von Cannes hat ein schweres Los gezogen. Schließlich gilt es, aus rund 20 Filmen den möglichst Besten zu bestimmen. Eine Aufgabe der Unmöglichkeit, gerade bei einer so subjektiven Kunstform wie dem Film. Nun gibt man sich dennoch immer wieder größte Mühe, und siehe da, der ein oder andere Sieger des Wettbewerbs gilt heute auch außerhalb des Festivals zurecht als Meisterwerk. Stellvertretend seien Filme wie „Taxi Driver“, „Pulp Fiction“, „Dancer in the Dark“, „Das Weiße Band“ oder „The Tree of Life“ genannt. Jeder neue Sieger muss den Test der Zeit erst bestehen. Unabhängig davon, wie „Shoplifters“ nun beim Publikum ankommt, muss also abgewartet werden. Das soll jedoch nicht davon abhalten, den Film zu besprechen. Es ist eine geerdete Geschichte, die Regisseur Hirokazu Koreeda mit seinem neuen Film erzählt. Grob gesagt, und auch hier sei erwähnt, dass weniger Vorwissen mehr ist, geht es um eine Familie in Armut. Der kleine Sohn streift mit seinem Vater durch Läden und beweist seine Fähigkeiten als Dieb, die Familie muss schließlich versorgt werden. Eines Tages tritt das kleine Mädchen Yuri, ebenfalls arm und ohne Obdach, in das Leben der Familie. Was von diesem Moment an geschieht, ist ergreifend, erschreckend realistisch, ohne jedoch auf Realismus zu setzen. Es ist eine persönliche Geschichte, die Figuren im Fokus, allesamt Familienmitglieder sind sehr verschieden, haben alle ein eigenes, sehr diverses Leben außerhalb der kleinen, engen Wohnung. Wir lernen diese Menschen kennen, wir fiebern mit ihnen und ihren Entscheidungen mit, und freuen uns für sie, jedoch im gleichen Maße, wie wir uns auch ärgern, sie verteufeln, ihnen eine Hand auf die Schulter legen und gut zureden wollen. Bis es soweit ist, nimmt sich Hirokazu Koreeda aber sehr viel Zeit. Der Regisseur wählt einen sehr direkten Einstieg, was dazu führt, dass das Figurenensemble im Vorbeigehen eingeführt wird, ohne jegliche Exposition. Das ist zwar grundsätzlich lobenswert, jedoch fällt besonders im ersten Viertel des Films die Bindung zu den Charakteren schwer, da der Film lange braucht, um seine Fassade für den Zuschauer bröckeln zu lassen um dahinter zu blicken. Die Figuren werden nicht vorgestellt, sondern hingestellt. Auch die Erzählung kommt anfangs nur schwer ins Rollen. Es wirkt fast so, als wäre der Film ein Rennfahrer, der in der ersten halben Stunde stets im zweiten Gang fährt, nur um dann zu merken, dass er zu wesentlich mehr fähig ist, und den dritten Gang für sich entdeckt. Nach und nach schaltet er weiter nach oben, bis er am Ende das volle Potenzial seines Gefährts ausschöpft. „Shoplifters“ fährt bis zum Ende große Geschütze auf, ohne jedoch das gemächliche Erzähltempo und die zurückhaltende Inszenierung aufzugeben. Denn der Regisseur hält sich zurück, er inszeniert die Geschichte entschleunigt und ruhig. Die Bühne gehört eindeutig den Darstellern, und die sind einer der Gründe, warum man „Shoplifters“ sehen sollte. Während der Erwachsenen-Cast erwartungsgemäß stark spielt, sind es vor allem die beiden Kinderdarsteller, die hier Großes leisten. In keinem Moment fallen sie aus der Rolle, sie wirken stets überzeugend und wie verlorene Seelen in einer Welt, die sie nicht verstehen, die sie überfordert, und in der man ihnen stets nur die halbe Wahrheit erzählt. Zur ruhigen Inszenierung gesellt sich die Musik, die nur sehr selten und subtil eingesetzt wird, und mehr als Stichwortgeber denn als tatsächliche musikalische Untermalung dient. Denn sie wird schlicht und einfach nicht benötigt, „Shoplifters“ spielt in einer Welt, in der vorbeifahrende Autos, Sirenen, Vögel, Radios, oder einfach das Schweigen zwischen den Figuren den Soundtrack bilden.

All das mag kryptisch wirken, doch die Gefahr, zu viel zu verraten, ist zu groß. Deshalb nur so viel: Die eigentliche Tragik der Geschichte, die emotionale Kraft, die der Film nie manipulativ erzwingt, offenbart sich weniger während des Sehens, sondern vielmehr nach der Sichtung von „Shoplifters“. Was im Detail bewegt, entlädt sich in seiner Gesamtheit zu einem Wechselspiel aus Trauer, Betroffenheit und Glückseligkeit. Dem Film wohnt eine Tiefe inne, die erst spät an die Oberfläche tritt und die dafür sorgt, dass er sich im Genre der Familiendramen weit oben positionieren darf. Er ist aber auch eine Gesellschaftskritik, die Darstellung einer ganz bestimmten japanischen Bevölkerungsschicht, ihrer Probleme, ihres Alltags abseits von Wohlstand. Ob „Shoplifters“ in zehn Jahren einen ähnlichen Ruf wie die anfangs genannten Filme haben wird, bleibt offen. Wir werden darüber philosophieren, wenn es soweit ist. Bis dahin bleibt der Film ein verdienter Gewinner der Goldenen Palme, und das in einem Jahr mit sehr starkem Wettbewerb, in einem Jahr, in dem die Jury rund um Präsidentin Cate Blanchett eine besonders schwere Entscheidung zu treffen hatte.