Cinema | Alternatives Kino

*Andere* Bilder im Kino

Es darf nicht um das Wohlbefinden weißer Cis-Männer ohne Behinderung gehen. So ließe sich der Weg zu einem Kino der *anderen* Bilder, Narrative und Perspektiven, nach Canan Turan, zuspitzen.
IDM/FAS Film Jour Fixe, Martine De Biasi und Canan Turan
Foto: Tiberio Sorvillo
  • Wer sich aus intersektionaler Sicht - will heißen mit einem Fokus auf Mehrfachdiskriminierungen - mit Filmkunst beschäftigen möchte, die von einem in Zentraleuropa weit verbreiteten Standardblickpunkt abkommen will, der muss eine gewisse Kritiktoleranz mitbringen, wenn er oder sie beginnt, sich in diesen Themenkomplex einzuarbeiten. Wir alle hätten gewisse Wissenslücken, meint Canan Turan, die Referentin des gestrigen Abends, den IDM und FAS gemeinschaftlich ausgerichtet haben, und tippt sich an dieser Stelle auch auf die eigene Schulter. Als nicht-praktizierende Muslima wurde sie durch eine Freundin darauf aufmerksam gemacht, dass das muslimische Gebetsritual in Filmen häufig falsch dargestellt werde. Dies verdeutlicht, dass von Vorurteilen oder Rassismus betroffene Personen nicht automatisch Expert:innen seien. Die Deutsch-Türkin ist Filmwissenschaftlerin, Filmemacherin, Kuratorin und Moderatorin mit den Schwerpunkten Diversität, Antidiskriminierung und Repräsentation in Gesellschaft, Kultur, Medien und Kino - sie gesteht Wissenslücken ein, so dürfte uns klar sein, dass wir uns in einem Spektrum bewegen und man nie alles richtig machen kann. Dieser Verletzlichkeit und Notwendigkeit auch Fehler zu machen, muss man sich aussetzen.

    Dabei gelte es zuerst mal die richtigen Begriffe zu finden, erklärt Canan Turan Martine De Biasi (Filmschaffende und Podcasterin), welche den Abend moderiert, während man noch beim Titel des Jour Fixe ausharrt - „*Andere* Bilder, Narrative und Perspektiven im Film“. Man muss sich, gerade im Film, einer der kollektivsten und vielschichtigsten Kunstformen, kritisch mit Begriffen wie dem Modewort „Diversität“ auseinandersetzen. Diversität darf nicht das eine und einzige Ziel eines *anderen* Kinos sein, da man sonst, zum Beispiel, auch beim Western landen könnte, einem der diversesten und gleichzeitig rassistischsten Genres des Kinos, welches eine verzerrte Sicht auf die Realität in welcher die indigenen Völker Nordamerikas tatsächlich leben, zeigt.

    Es möchte Canan Turan nicht unbedingt, dass die Sprache zum Minenfeld wird, aber die Begriffe, welche  man braucht um über ein möglichst diskriminierungsfreies Kino zu sprechen, müssen kritisch hinterfragbar bleiben. Sie betont hierzu auch, so anstrengend das für jemand mit wenigen Berührungspunkten zum Themenkomplex klingen mag, den Wert eines solchen Strebens nach verstärktem Einsatz für das *andere* Kino (in Deutschland und darüber hinaus) auch für diejenigen, die in der Gesellschaft zahlenmäßig in der Mehrheit sind. So viele Geschichten würden nicht rezipiert oder erzählt, weil sie nicht aus der gesellschaftlich dominanten Perspektive erzählt werden, merkt Turan an, die darin ein großes kreatives Potential erkennt. 

    Turan unterstreicht, dass der intersektionale Blick auf das Kino es mit sich bringe, dass  auch ein afroamerikanischer Starregisseur wie Spike Lee, der in Sachen Antirassismus Wegbereiter gewesen sei, dann aus feministischer Perspektive äußerst angreifbar sei, wie Bell Hooks betonte. Als Einstieg, bevor es an die Literaturempfehlungen ging, empfahl die Referentin „The call to courage“ (auf Netflix, Anm. d. Red.) von Brene Brown, die das Unwohlsein von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft als natürliche und unumgängliche Folge einer Auseinandersetzung mit den eigenen, verinnerlichten (und damit meist nicht bewussten) Vorurteilen und Privilegien sieht. Dass man bei Debatten über die Diskriminierung anderer dabei, instinktiv, an den eigenen Komfort denkt, zeigt wie privilegiert man eigentlich ist, ohne sich dessen bewusst zu sein.

    Eine intersektionale, bewusst antidiskriminatorische Herangehensweise an das Kino muss für Turan auch von weißen europäischen Konstruktionen nicht monolithischer Gesellschaften wegkommen, welche viel zu häufig, aus der Perspektive des Westens „imaginiert“ also vorgestellt oder gezeichnet werden. Auch darin gibt es großes Potential für neue, *andere* Bilder. Als Beispiel nannte Turan, frei nach Edward Saids Standardwerk „Orientalismus“ das Konstrukt von Haremsbildern. Die westliche Vorstellung eines Harems, zu welchem nur die Frauen des Harems und der Sultan Zugang hatten, schöpft sich im Wesentlichen aus der Vorstellung von westlichen (meist männlichen) Malern.

    Viel zu häufig werden, auch im um Diversität bemühten Kino, Vorurteile wiedergegeben und ohne ausreichende Differenzierung dargestellt, etwa wenn es um die Rolle der Frau im (in dem) Islam geht. Ein weiterer, gängiger Fehler ist die Haltung, dass, von Ausgrenzung betroffene Personen in einer Art Bringschuld wären, einem beizubringen über die eigenen Vorurteile hinwegzukommen. Das ist Aufgabe des einzelnen und damit, klarer Weise auch mit Lektürearbeit verbunden.

    All das führt sicherlich auch - doch nicht notgezwungen, wie Filmbeispiele gegen Ende des Vortrags deutlich machen - dazu, dass diese Art des Filmschaffens auf den ersten Blick als einschränkend oder anstrengend, als eine Art Belastung oder Zusatzpflicht wahrgenommen, statt als Chance verstanden werden. Turan erinnert sich auch daran, beim Ansuchen um Fördergelder mit dem Satz „Wir haben dieses Jahr schon einen Migrantenfilm gemacht“, konfrontiert worden zu sein. Bei aller Anstrengung und einer langen akademischen Leseliste, ließ es sich Turan aber nicht nehmen, mit einer Reihe von Positivbeispielen für ein *anderes* deutsches und auch englischsprachiges Kino zu enden, die mit Auszügen besprochen wurden und auch zeigten, dass subversiv aufgegriffene und unterwanderte Stereotype ein guter Weg sind, diese wirkmächtigen Vorurteile auf - für betroffene Personen und Außenstehende - unterhaltsame Weise anzuerkennen und zu unterwandern. In dieser Angelegenheit könnten auch Antidiskriminierungs-Berater:innen helfen, welche beim Film noch zu wenig zum Einsatz kämen. Für Canan Turan ist das einigermaßen erstaunlich, wo man sich beim Film doch für vieles, von Waffen bis historischer Genauigkeit, auf externe Expertisen verlässt.

    Das auch, weil ein „neutraler“ Blickpunkt, auch wenn er in Dokumentarfilmkreisen als Mythos der „Fliege an der Wand“ weitergeistert, aber schlicht nicht existiert. Der Dokumentarfilm hat seine Wurzel übrigens bei den ethnologischen Filmen eines vergangenen Jahrtausends, wo der weiße Mann die Erklärung Afrikanischer auf sich nimmt. Wohin man sieht, es sind mehrheitlich Blicke von außen, die uns dem „Anderen“ annähern.

    Wer nicht in die Universitätsbibliothek gehen möchte, der kann vielleicht bei den Filmen in der Infobox anfangen, ohne sich schlecht zu fühlen. Eine weitere interessante Beobachtung aus dem Publikum zeigte, dass es sich auf der Liste mehrheitlich um kollektiv geführte Filmprojekte handelte. Es helfe sicherlich auch, so eine der letzten Empfehlungen Turans, von der Genievorstellung eines Einzelregisseurs weg und mehr hin zu einer kollektiven Arbeit zu kommen, wie sie etwa in den Writers Rooms praktiziert wird, die etwa bei großen Serienprojekten schon gang und gäbe sind. Kinowetter ist ja gerade.

  • Filmepfehlungen von Canan Turan (für Trailer anklicken)