Der Ölknott im Heiligen Winkel
Hier am Rand des Bozner Talkessels erstreckt sich eine reiche, seit Urzeiten bewohnte Landschaft. Durch zahllose Funde und Sagen bleiben jene Zeiten lebendig, welche in einer leisen Ahnung Tage anklingen lassen, als hier eine überaus prosperierende Kultur lebendig war, die das Wasser auf vielfältige Weise verehrte und in ihr Leben miteinbezog. Doch fast ausgetrocknet sind heute die Hänge des Heiligen Winkels: Die einst üppigen Bäche sind kleine Rinnsale, die heilenden Schwefelquellen verschüttet, und beinahe vergessen ist auch der wundersame Stein, auf dessen Oberfläche sich der Sage nach nie versiegendes, heilkräftiges Wasser sammelt.
Die Wurzeln vieler Steinheiligtümer liegen in der Jungsteinzeit, als die neue sesshafte Lebensweise der Menschen eine tiefere Beziehung zur Landschaft begünstigte. Sie begannen, besondere Plätze in ihrem Lebensraum zu verehren, die sich mit der Zeit zu bekannten und bedeutsamen Orten entwickelten und wichtige Bezugspunkte für eine gemeinsame kulturelle Identität wurden. An ihnen fanden sie Inspiration und die Möglichkeit, ihre Glaubensbekundungen auszudrücken. Der Ölknott dürfte einer dieser besonderen Orte gewesen sein. Über Jahrtausende erfuhr er tiefe Verehrung, die selbst dann nicht abriss, als Siedlungen verschwanden, neue Machthaber ins Land kamen und neue Religionen den vorherigen Glauben ablösten.
Eine Legende berichtet von jener Zeit:
„Auf dem Ölknott am Greifensteiner Hang fand sich ein wunderbares Öl, das sehr heilsam war und allerlei Krankheiten heilen konnte. Über viele Jahre kamen zahlreiche Pilger zum einsamen Kirchlein empor, beteten dort und nahmen sich von dem Öl. Doch trotz großer Beliebtheit und vieler schöpfender Hände versiegte es nie.
Irgendwann kamen das Kirchlein und das umgebende Gelände in den Besitz eines geizigen Mannes. Dieser sah mit Unwillen die vielen Menschen auf den Felsen steigen und wollte aus dem Wunderöl ein Geschäft machen. Er ließ den Stein mit einem eisernen Gitter umschließen, damit er das Öl den Pilgern um teures Geld verkaufen konnte. Als nun die Menschen das Öl verlangten und der Besitzer es ihnen nur mehr für Geld geben wollte, wurden sie zornig und verwünschten seine Gier.
Doch da floss das Öl nicht mehr – in den großen Eintiefungen auf dem Stein sammelte sich nur noch gewöhnliches Regenwasser. Niemand wollte ihm dafür Geld geben und die Menschen schimpften ihn nun nicht mehr nur einen Geizkragen, sondern auch einen Betrüger. Wütend riss der Mann den Zaun und das Tor mit dem Schloss wieder vom Stein herunter. Doch weder sein Zorn noch seine Einsicht halfen. Das Öl war für immer versiegt.“
Nach Ignaz Vinzenz Zingerle, Sagen aus Tirol
Trotz seiner respektablen Größe von circa drei Metern ist der Ölknott nicht leicht zu finden, denn er liegt am steinigen Weg zur ehemaligen Wallfahrtskirche St. Cosmas und Damian gut im Buschwald versteckt und kein Steig führt zu ihm. Wenn man dennoch das Wagnis auf sich nimmt, sich durch dichtes Buschwerk und kratziges Mäusedorn zu kämpfen, welche den Stein regelrecht umzingeln, kann man die Vertiefungen sehen, in denen sich stets so viel Regenwasser sammelt, dass es selbst in den heißesten Monaten nicht austrocknet. Ein Besteigen des Steins ist aber nicht ganz einfach und nur schwindelfreien Kletterkünstler_innen anzuraten.
Die größte Vertiefung, die allerdings künstlich erweitert wurde, fasst etliche Liter Regenwasser. Eine zweite, deutlich kleinere Mulde befindet sich am südlichen Rand, gleich daneben liegt ein quaderförmiger großer Stein und beschattet eine weitere relativ große Auskerbung. Sieht man genau hin, erkennt man tatsächlich einen dünnen öligen Film auf der Wasseroberfläche, der durch die Verwesung von Blättern und anderem organischen Material entsteht.
Die in der Sage beschriebene Verehrung des Ölknotts deckt sich mit Funden, die darauf hinweisen, dass es hier über längere Zeit einen Opferplatz gegeben hat. So fanden sich in seinem unmittelbaren Umkreis ein verziertes Fragment eines typischen bronzenen Kultgefäßes aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. und andere Streufunde aus der späten Bronze- und frühen Eisenzeit, die auf einen Kultort hinweisen.
Der Ölknott hat die Zeiten überdauert, er ragt wie eh und je wacker über die Vegetation, und in seinen Becken sammelt sich nach wie vor ölig schimmerndes Wasser. Zu selten kommt jemand vorbei, spricht mit ihm, berührt ihn, kostet sein Wasser und genießt dabei gleichzeitig den schönen Ausblick auf die Umgebung.