Der Preis der Pandemie
Eine lila Schleife. Unter diesem Symbol wird jedes Jahr im März italienweit für eine Krankheit sensibilisiert, die nach den Verkehrsunfällen die zweithäufigste Todesursache unter Heranwachsenden ist: Essstörungen. Drei Millionen Menschen leiden in Italien daran, am häufigsten unter Magersucht (Anorexia nervosa), Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa) und Esssucht (binge eating). In Südtirol werden jährlich hunderte Fälle betreut, fast ausschließlich Mädchen und junge Frauen.
Diese Woche hat die Landesregierung beschlossen, dass, wer sie sucht, noch unkomplizierter und flexibler Hilfe finden soll. Auch weil die Corona-Pandemie einen langen Schatten wirft, der zeigt, dass ihre Spuren noch lange nicht verblasst sind.
Immer mehr, immer jünger
Nur wenige Monate nach Ausbruch der Corona-Pandemie in Südtirol schlug Raffaela Vanzetta bereits Alarm. Die Psychotherapeutin leitet die Fachstelle für Essstörungen INFES im Forum Prävention in Bozen. Die ist für viele Ratsuchende oft die erste Anlaufstelle. Wiederholt und mit Nachdruck wies Vanzetta 2020 und 2021 auf die Auswirkungen der sozialen Isolation und die Langzeitfolgen für junge Menschen hin – sie hatte bemerkt, dass die Fälle von Essstörungen deutlich zugenommen hatten. Um 30 Prozent in Italien und Südtirol allgemein. Bei INFES um noch einmal mehr. “Wir hatten 2021 und 2022 doppelt so viele Erstberatungen wie in den Jahren zuvor”, berichtet Vanzetta. Inzwischen sei die Zahl wieder rückläufig – was den Verdacht mehr als nahe legt, dass der markante Anstieg an Essstörungen mit der Pandemie zusammenhängt. “Ja, das ist absolut so”, bestätigt Vanzetta. “Schließlich wurden die Jugendlichen am härtesten ‘bestraft’.”
Die großen Verlierer dieser Pandemie bleiben die Jugendlichen, die wirklich alles verloren haben, was ihr Leben ausgemacht hat: die Schule, die Feten, der enge Kontakt mit Freunden, der Sport, die Musik, Konzerte, Festivals, Diskos. Raffaela Vanzetta, Februar 2021
Den Zusammenhang zwischen Pandemie und der Entstehung einer Essstörung erklärt die Psychotherapeutin so: “Als eine Folge der Pandemie haben Junge viel mehr Zeit online und auf Social Media verbracht, wo zum einen vermittelt wird, dass man mit einem perfekten Körper ein tolles Leben hat. Zum anderen wurden während der Lockdowns massenhaft Home-Workouts produziert und gepostet – und Angst davor gemacht, wegen der Ausgangsbeschränkungen und geschlossenen Sportanlagen dick zu werden.” “Zugleich”, fährt Vanzetta fort, “hat die Pandemie Zukunftsperspektiven genommen – für Jugendliche, die ihr gesamtes Leben noch vor sich haben, war das viel beunruhigender als etwa für Erwachsene. Jugendliche haben nach Sicherheiten gesucht. Etwas, was Sicherheit gibt, ist Kontrolle. Und was kann ich kontrollieren, wenn sonst alles außer Kontrolle ist? Den eigenen Körper, die eigene Ernährung”.
Besonders “ganz Junge” hätten vermehrt Essstörungen entwickelt, sagt Vanzetta. “Vor der Pandemie hatten wir bei INFES selten 14-Jährige, die meisten Betroffenen waren 16- bis 17-Jährige. Nach der Pandemie sind 14-Jährige eher die Regel denn die Ausnahme. Und immer öfter kommen 11- bis 12-Jährige zu uns.” Woran die Pandemie nichts geändert hat, ist die Tatsache, dass Essstörungen nach wie vor fast ausschließlich weiblich sind.
Hürden fallen – weil Bedarf steigt
Bereits 2021 hat die Politik auf die immer mehr und jünger werdenden Patientinnen reagiert. Unter Gesundheitslandesrat Thomas Widmann hat die Landesregierung die Voraussetzungen geschaffen, um Menschen mit Essstörungen besser und wohnortnaher betreuen zu können. Eine Einrichtung, die in diesem Zuge konkret entstanden ist, ist die Villa Eèa. Im April 2022 hat das Zentrum für Essstörungen im Stadtzentrum von Bozen geöffnet. Die Struktur umfasst eine Wohngemeinschaft mit acht und eine Tagesstätte mit zwölf Plätzen. Geführt wird die Villa Eèa von einer Sozialgenossenschaft in enger Zusammenarbeit mit dem Südtiroler Sanitätsbetrieb. Bei mindestens 16 Jahren lag bisher die Altersbegrenzung, um in die Wohngemeinschaft aufgenommen zu werden, bei mindestens 14 Jahren für die Tagesstätte. Die Anfragen für jüngere Patientinnen aber haben sich in den vergangenen Monaten gehäuft. “Der Bedarf an Therapieplätzen ist enorm”, meint Raffaela Vanzetta. Daher hat die Landesregierung nun Anfang der Woche beschlossen, das Mindestalter für den Zugang zu stationäre und ambulanten Betreuungsdiensten bei Essstörungen zu senken: von 14 auf 12 Jahre für die Tageszentren und von 16 auf 14 Jahre bei therapeutischen Rehabilitationsgemeinschaften.
Die Überweisung der Patientinnen an spezialisierte Einrichtungen erfolgte bisher immer über eines der vier Ambulatorien für Essstörungen in Südtirol. “Vor allem in denen in Bozen und Meran gibt es Engpässe und bisweilen lange Wartezeiten”, weiß Vanzetta. In Zukunft wird jeder Facharzt, der eine angemessene Diagnose von Essstörungen stellen kann – z.B. Psychiater, Kinder- und Jugendpsychiater, Pädiater, Gastroenterologen, Fachärzte der inneren Medizin und des Ernährungsdienstes –, diese Überweisung vornehmen können. “Wenn der praktische Arzt die Notwendigkeit dafür sieht, kann er sich direkt etwa an die Villa Eèa wenden. Das Team dort entscheidet dann, ob die Patientin aufgenommen wird oder nicht – den Trichter über das Ambulatorium braucht es nicht mehr”, erklärt Vanzetta die Neuerung.
Sensibilisierung als Auftrag
Mehr Flexibilität, niederschwelliger und unkomplizierter an Betreuungs- und Therapieangebote bei Essstörungen gelangen – alles in allem sei der jüngste Beschluss der Landesregierung nicht nur im Sinne von INFES, sondern käme in erster Linie den Betroffenen und Angehörigen zugute, betont die INFES-Leiterin. Der aktuelle Gesundheitslandesrat Arno Kompatscher beteuert, dass die Landesregierung das Thema Essstörungen ernst nehme. “Die psychische Gesundheit ist leider oftmals noch ein Tabu-Thema”, so Kompatscher. “Hier braucht es Sensibilisierung und vor allem eine Enttabuisierung des Themas.”
Dazu tragen INFES und Koordinatorin Vanzetta seit Jahren und weiterhin mit großem Engagement bei. Ende März erscheint ein Buch, das Raffaela Vanzetta gemeinsam mit ihrer umbrischen Fachkollegin Laura Dalla Ragione geschrieben hat. In “Social fame” geht es um die Risiken von Social Media für die Entstehung von Essstörungen. Das Buch erscheint Ende März, soll ab April in Buchhandlungen und online erhältlich sein – und auf jeden Fall auch in Südtirol vorgestellt werden, kündigt Vanzetta an. Ende April startet dann eine breit angelegte INFES-Kampagne zum Thema Bodyshaming und Essstörungen.