Society | Interview

Wenn junge Seelen um Hilfe schreien

“Den Wunsch zu sterben begleitet im Allgemeinen ein unerfüllter Wunsch, gerettet zu werden”, sagt Dr.in Klara Meßner zum Thema Suizid bei Jugendlichen.
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Foto: web

Kinder- und Jugendseelen sind zerbrechlich. Wie sehr, das weiß Dr.in Klara Meßner. Sie hat als Mitarbeiterin des fachärztlichen Ambulatoriums für die psychosoziale Gesundheit im Kindes- und Jugendalter mit vielen Krisenfällen zu tun. Ihre Patienten sind jung, “zwischen 0 und 18”. Und einige sind darunter, die einer ganz besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Es sind Kinder und Jugendliche, die einen Suizidversuch hinter sich haben oder mit dem Gedanken daran spielen. Meßner hat es sich zur Aufgabe und zum Beruf gemacht, diese jungen Menschen “so gut es geht” unmittelbar nach dem Ereignis im Ambulatorium am Grieserplatz Nr. 10 in Bozen zu betreuen. Vergangenen Freitag fand unter dem Titel “Ohne mich: Suizid bei Jugendlichen” eine Tagung in Bozen statt, mit organisiert von Dr.in Klara Meßner.

Frau Meßner, bei der Tagung wurde unter anderem über die Risikofaktoren gesprochen, die zu Selbstmord bei Jugendlichen führen können. Welche sind diese?
Klara Meßner: Faktoren, die für eine besondere Anfälligkeit sorgen, sind Suizide in der Familie oder von sehr nahen Freunden, der Verlust einer wichtigen Bezugsperson in der Familie, Missbrauch von Substanzen, die auf die Psyche einwirken sowie Verhaltensstörungen.


Dr.in Klara Meßner

Welche Rolle spielt das Internet, die virtuelle Welt, die vielen Jugendlichen ein zweites Zuhause geworden ist?
Das Internet ermöglicht den Rückzug aus der Realität, was dazu führen kann, dass der Bezug dazu abnimmt, immer mehr verloren geht. Die Jugendlichen pflegen reale Freundschaften nicht mehr und sind nicht mehr imstande, im ‘wahren Leben’ zu interagieren.

Zuletzt wurde von einem Mobbing-Fall berichtet, der ein junges Mädchen beinahe in den selbst gewählten Tod getrieben hätte.
Es ist bekannt, dass Mobbing, und vor allem jenes im Mittelschulalter, extrem pathologisierend, also äußerst belastend ist. In den meisten Fällen haben die Betroffenen bereits schon früher im Leben Mobbing erlebt. In der Mittelschule kommt der Faktor Freundeskreis verstärkt hinzu. Entweder schafft es ein Jugendlicher nicht, einen Freundeskreis aufzubauen. Oder er wird aus einem ausgeschlossen.

In diesem Alter verändert sich auch der Körper. Spielt das in irgendeiner Hinsicht mit eine Rolle?
In der Pubertät bemerken die Jugendlichen natürlich, wie sich der Körper verändert und werden sich bewusst: “So wie ich bin, bleibe ich mein Leben lang”. Mit der Endgültigkeit des Körpers rückt dann auch die Sterblichkeit des Körpers in das Blickfeld.

Zwischen September 2014 und Jänner 2016 wurden 236 Kinder und Jugendliche, die sich an das Fachambulatorium am Grieser Platz Nr. 10 gewandt hatten, stationär aufgenommen. Darunter 78, die Suizidgedanken und 22, die einen Suizidversuch hinter sich hatten.

Es bedarf dann aber wahrscheinlich eines gewissen Anlasses, eines Auslösers sozusagen, damit der Gedanke an einen Suizid aufkommt?
Bei diesen auslösenden Faktoren spielt meist der Verlust des Selbstwertgefühls eine Rolle. Zum Beispiel bei heftigen Diskussionen in der Familie, infolge eines beschämenden Disziplinarverfahrens, aufgrund einer Schwangerschaft oder Versagens in der Schule. Ebensogut kann eine Liebesenttäuschung oder der Verlust der familiären Umgebung durch Umzug maßgeblich sein. Weitere Faktoren können der Verlust von Struktur oder Grenzen sein, was zum Gefühl der Haltlosigkeit führt oder, bei intensivem Druck von Seiten der Eltern, das Gefühl, ihren Erwartungen niemals entsprechen zu können. Ein häufiges Motiv für einen Suizidversuch ist, die anderen einzubeziehen, beziehungsweise sie mit der Fantasie zu bestrafen, dass sie nach dem Suizid schwer an Schuldgefühlen leiden werden.

Es geht also immer auch um das Umfeld, nicht nur um die betroffene Person selbst?
Jeder Suizidversuch ist ein Hilferuf. Ein Satz ist dabei ganz zentral: Den Wunsch zu sterben begleitet im Allgemeinen ein unerfüllter Wunsch, gerettet zu werden.

Wie manifestiert sich dieser Wunsch zu sterben?
Die Jugendlichen befassen sich in der Regel lange damit, mit dem Sinn des Lebens und des Sterbens. Und es beginnt ein Mechanismus der Planung, was gleichzeitig bedeutet, den Tod selbst bestimmen zu können. Wenn dann irgendwann die Zustimmung für das Sterben da ist, werden die Details geplant: Wie? Wann? Wo?

Wenn nun jemand aus dem engsten Umfeld – Eltern, Geschwister, Freunde, Lehrer – aufmerksam wird und den Verdacht hat, der oder die Jugendliche spielt mit Suizid-Gedanken. Wie verhält man sich dann, wie kann man helfen?
Mein Rat ist stets, sich in erster Linie um die betroffene junge Person zu kümmern: Aufmerksamkeit schenken, Zeit miteinander verbringen, etwas gemeinsam unternehmen. Erst wenn die Beziehung intensiv genug ist, kann die Person auch direkt auf die Befindlichkeit angesprochen werden.

Es geht darum, die jungen Betroffenen seelisch zu retten. Sie wollen nicht nur biologisch überleben; es ist die Seele, die einer Rettung bedarf.

Ab welchem Moment sollte professionelle Hilfe aufgesucht werden?
Immer dann, wenn der Verdacht aufkommt, wenn Andeutungen fallen, wenn Jugendliche sich mehr und mehr zurückziehen. Dann gehört umgehend Hilfe gesucht.

An wen kann man sich in Südtirol in solchen Fällen wenden?
Eine erste Anlaufstelle sind die Fachambulanzen für Psychosoziale Gesundheit im Kindes- und Jugendalter, die Psychologischen Dienste, Beratungsstellen. Im Notfall ist die Erste Hilfe, sind aber auch die Carabinieri da, schließlich die Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie am Krankenhaus Meran. Hier, am Grieser Platz in Bozen, bieten wir einen Dienst für ambulante Behandlung an und sind in ständigem Kontakt mit Meran, wo dringende Fälle aufgenommen werden können.

Wie begegnen Sie den jungen Menschen, die sich an Sie wenden?
In dem Moment, wo der Gedanke aufkommt oder ein Versuch stattgefunden hat, ist es essentiell, dass sich die wichtigsten Personen um den oder die Jugendliche scharen. Meist werden sie von einem Elternteil zu uns begleitet. Wir versuchen dann, die Familie mit einzubinden. Und zu verstehen: Was ist genau passiert, im Umfeld der Tat, wie ist es dazu gekommen? Es ist wichtig, sich um jedes kleine Detail zu kümmern, eine gute Beziehung herzustellen.

Wie reagieren die betroffenen Jugendlichen darauf?
Dankbar. Die angebotene Hilfe wird in sämtlichen Fällen angenommen. Es geht darum, die jungen Betroffenen seelisch zu retten. Sie wollen nicht nur biologisch überleben; es ist die Seele, die einer Rettung bedarf. Im günstigen Fall kommt es zu einer längerfristigen Therapie.

Tragen diese jungen Seelen auch Narben davon? Sprich, wie wirkt sich ein Suizidversuch in jungen Jahren auf das weitere Leben aus?
Wie gesagt, ein erster Schritt ist, den Betroffenen das Gespräch anzubieten, Verständigung und Verständnis und sich intensiv um sie zu kümmern. Wenn das alles, gemeinsam mit einer langfristig angesetzten Therapie, positive Auswirkungen bei den Jugendlichen und im Umfeld bewirkt, hat diese Erfahrung ihr Ziel erreicht und kann abgelegt werden.

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Salto User
Sepp.Bacher Fri, 04/22/2016 - 11:22

Nachdem mir heute Morgen das System meinen Beitrag gefressen hat, muss ich nun einen erneuten Anlauf nehmen. Übrigens, das passiert mir auf keiner anderen Web-Seite!
Ich habe Frau Dr. Klara Meßner auch heute im Morgen-Telefon gehört und es scheint mir, dass Sie bei diesem Thema ein großes Tabu hat.
Einen wesentlichen Anteil an der Suizidalität bei männlichen Jugendlichen hat mE die nicht gelungene sexuelle Orientierung. Es ist inzwischen zur Genüge bekannt, dass es sexuelle Minderheiten gibt: Schwule, Lesben, Bisexuelle, Transsexuelle, Intersexuelle, usw. Wenn Jugendliche sich als Pubertierende oder im Teenager-Alter ihres Andersseins gewahr werden, es aber noch nicht ganz akzeptieren und leben können, geraten sie häufig in eine schwere Identitätskrise bei der sie sich meistens sehr einsam fühlen und oft keinen Ausweg mehr sehen.
Ein deutscher schwuler Psychologe, der zu Beginn der Schwulen-Organisation Centaurus in Bozen ein Seminar hielt, erzählte, dass er in seiner wissenschaftlichen Dissertation das Thema der Suizidalität unter Schwulen erforscht hat. Dabei stellte sich heraus, dass die Verlaufskurve bei Schwulen diametral zu der der Hertero-Männer verläuft. Während letztere die Spitze im Alter haben, findet man sie bei Schwulen in den Jugendjahren. Daraus kann man schließen, dass ein gute Teil der suizidalen jungen Männer von einer solchen Krise und Ausweglosigkeit betroffen sein werden. Nimmt Frau Dr. Meßner das nicht wahr? Spricht sie das nicht an? Hat sie diesbezüglich ein Tabu? Das wäre schlimm!
Es ist bekannt, dass Schwule nicht gerne zum Psychologen oder Psychiater gehen, denn sie wollen akzeptiert und nicht therapiert werden. Das heißt aber nicht, dass sie damit gut zurechtkommen. Als in der Vergangenheit noch öfter über Selbsttötungen junger Männer berichtet wurde, glaubten Schwule den Grund schon zu kennen; so ganz nach dem Motto: Wer von uns hat nicht auch schon mal daran gedacht oder sogar bereits einen Versuch unternommen. In den letzten Jahren hat man in den italienischen Medien einige Berichte über Suizid in Folge von Mobbing und Bullying gelesen.

Fri, 04/22/2016 - 11:22 Permalink