Bilderbuch des Unbewussten
Er sitzt da und sieht uns unverwandt an, der halbwüchsige Junge im Nadelstreifanzug, glatt-glänzendem, gescheitelten Haar und weichen, fast mädchenhaften Zügen. Auf seinem linken Oberschenkel ruht eine Vogelkralle, auf der einbeinig ein weißgefiederter Vogel steht und uns sein edles Profil mit dolchartig gebogenem Schnabel zuwendet.
„Ibis“ nennt sich die Zeichnung mit schwarzem Kugelschreiber auf Papier aus dem Jahr 2014. Es ist eine von nahezu 90, auf denen jeweils die Darstellung einer Person oder Personengruppe mit einem Tier kombiniert wird, die die Künstlerin Verena Kammerer in ihrem vor kurzem im Raetia Verlag erschienenen Buch „heimat – irgendwo“ versammelt hat. Entstanden sind die Zeichnungen zwischen 1997 und 2016 in immer derselben Technik und nach gleichbleibendem Sujet. In dieser stilistischen Begrenzung habe die Künstlerin „die größtmögliche Verdichtung und gleichzeitig genügend Raumlassendes gefunden“.
Die Menschen auf diesen Zeichnungen sind keine Zeitgenossen, sie stammen aus der Jahrhundertwende des letzten Jahrhunderts und wirken in ihren hochgeschlossenen Krägen und steif gebügelten Kleidchen, ihren streng gescheitelten Frisuren und den ernsten Blicken, mit denen sie uns betrachten, wie die letzten Zeugen einer längst vergangenen Welt – die angesichts unserer heutigen spaßverliebten und selfie-manischen Gesellschaft noch viel weiter entfernt scheint, als sie es historisch wäre.
Das Stumme und doch Vielsagende der Figuren wird unterstrichen durch ihre Namenlosigkeit.
Tatsächlich ließ sich die Künstlerin für diese Zeichnungen von einem Band alter Daguerreotypien inspirieren, den sie im Jahr 1997 auf einem Berliner Flohmarkt aufstöberte und der die Zeit heraufbeschwört, in der der Gang zum Fotografen ein außergewöhnliches, einzigartiges Ereignis darstellte, für den man sich nicht nur das beste Kleid, sondern auch den Gesichtsausdruck aufsetzte, mit dem man für die Nachwelt verewigt sein wollte.
Der Ausdruck dieser Gesichter, der Familienväter, Mütter, Ehefrauen, Schwestern, Geschwister und vor allem Söhne und Töchter ist durchgehend ernst, aber auch wissend, altklug, anklagend, gütig, melancholisch, selbstvergessen, fordernd, jeder für sich so aussagekräftig, dass einem für jedes Gesicht und jede Situation gleich mehrere Geschichten einfallen wollen. „Dass ich in der Verschlossenheit der Gesichter eine Beredtsamkeit zu finden glaube, oder im Umkehrschluss, dass ich den Darstellern ein unausgesprochenes Geheimnis versuche anzudichten“, schreibt Verena Kammerer in ihrem Nachwort und legt eine weitere Spur für die Faszination, die diese Fotografien auf sie ausgeübt haben und die sie in ihren originell komponierten und stilsicher gefertigten Zeichnungen davon weiterzugeben vermag.
Das Stumme und doch Vielsagende der Figuren wird unterstrichen durch ihre Namenlosigkeit. Titelgebend für die Zeichnungen sind ausschließlich die Namen der Tiere, mit denen die Künstlerin ihre Zeichnungen zusätzlich bevölkert bzw. zu ihren Figuren drapiert hat. Die Inspiration für diese sehr lebendig und realistisch gezeichneten Tierdarstellungen, deren Präsenz in den Zeichnungen durch die unverhältnismäßige Größenproportion noch befremdlicher wirkt, holte sie sich diesmal von einem Sachbuch mit Illustrationen, die der Artbestimmung dienen. Allgemein bekannte Tiere wie die Hausmaus, der Maikäfer oder der Heuhüpfer bis hin zu Exoten wie der Kapkormoran, die Sattelrobbe oder die Mönchsgrasmücke und onomatopoetisch aufgeladene Tiernamen wie die Groppe, der Kibitz, Kiwi, das Okapi oder Streifenskunk leihen den Zeichnungen ihre Namen und verlagern das Augenmerk weg von den Menschen. Die dadurch zu bloßen Stellvertretern ihrer Spezies, zu stummen Repräsentanten ihrer festgestellten Rollen: Mensch, Tochter, Ehefrau, Zwillingsbruder etc. gewordenen Figuren geraten hinter das bezeichnete Tier, bleiben durch eine kleine Berührung, die ausgestreckte oder schützende Hand mit diesem manchmal zwar verbunden, wirken aber trotzdem abwesend und ihrem Schicksal ergeben.
Oder täuschen wir uns? Ist es das Kind mit den zu kleinen Händen auf Seite 146, das den Vogel festhält und ihn am Wegfliegen hindert? Oder ist es umgekehrt der Ibis, der den Jungen niederdrückt oder ihn gar beschützt? Sind sie sich nah und vertraut oder nur ein Exempel unter anderen für das Nebeneinander von Mensch und Tier, für das Befremden aneinander und für die existentielle Einsamkeit eines jeden Lebewesens auf Erden? Was weiß jedes dieser Lebewesen von seiner Art, von seiner Vergangenheit und Zukunft und welchen Einfluss hat es darauf? Was und wie erzählen sie uns davon?
Solche und andere Fragen mögen sich auch die Autorinnen und Autoren gestellt haben, die Verena Kammerer eingeladen hat, ihre Zeichnungen mit Texten zu illustrieren. Meist ist es umgekehrt: Bilder illustrieren Texte. Bei diesem außergewöhnlichen Literaturprojekt allerdings bilden die Kugelschreiberzeichnungen von Verena Kammerer den Ausgangspunkt: Die in Berlin lebende Künstlerin hat ihre Zeichnungen befreundeten und bekannten Schriftstellerinnen und Schriftstellern als Inspirationsquelle, Schreibanlass, literarisches Motiv überlassen. Das Ergebnis ist eine Sammlung von 40 Texten, die als Reaktion auf die Zeichnungen entstanden sind oder eine Korrespondenz dazu aufgegriffen haben, ein äußerst vielseitig verdichtetes Kompendium zeitgenössischen europäischen poetischen Denkens, das seinerseits Fragen stellt nach dem Verhältnis der Figuren:
Das Gedicht „tauchgang bei nebel“ von Kai Pohl (S. 103), steht exemplarisch für viele andere Texte.
Nackt im faulen Luch baden
Nachtverse aus Fugen klauben
eingelullt vom Staub der
wedelnden Vielzufrühblüher.
Bildungsfern blinzeln Sterne
Schneeigel aus den Höhlen
schnuppern im Weißbuch
schimmern im Rhythmus
auf überkommenem Boden
jetzt Rasen, der stillsteht.
Früh in den Schwaden
wäscht sich das Licht.
Kennengelernt hat Verena Kammerer viele der zum Teil sehr bekannten Autoren wie Friederike Mayröcker, Robert Schindel oder Ilma Rakusa wie auch die Südtiroler Literatinnen Bettina Galvagni oder Sabine Gruber u.a. in ihrem Herkunftsort Lana, wo die Vielfalt der vernommenen Sprachen und Literaturen, wie sie im Nachwort schreibt, sie in ihrem Wunsch bestärkt habe, zu ihrem eigenen künstlerischen Ausdruck zu finden.
Ein stimmiger Anlass also, dass das Buch nun bei Literatur Lana erstmals in Südtirol präsentiert wird.
Bei der Matinee am Samstag, den 22. April um 11 Uhr, spricht Verena Kammerer über ihre Zeichnungen und die als unmittelbare Reaktion darauf entstandenen Texte. Es lesen Rut Bernardi, Josef Oberhollenzer und Sepp Mall.
Hofmannplatz 2, Lana