Nur noch kurz die Welt retten?
In der Lichtenburg Nals tagte am Dienstag, Mittwoch und Donnerstag dieser Woche die Direktorenkonferenz der Caritas Österreich mit den Vertretungen aus den Diözesen bzw. Bundesländern; als regelmäßiger Gast dabei war auch die Südtiroler Caritas. Den Generalsekretär Klaus Schwertner treffe ich im Krankenhaus von Bozen, wo er einer hochschwangeren Frau aus Afrika eine Besuch abstattete, die er am Tag zuvor bei einem Lokalaugenschein der Flüchtlingssituation am Bozner Bahnhof kennengelernt hatte.
Herr Schwertner, diente die Direktorenkonferenz der Caritas Österreich in der Nalser Lichtenburg einem besonderen Zweck?
Klaus Schwertner: Wir treffen uns drei mal im Jahr, um unser Netzwerk aus den Bundesländern zu koordinieren und abzustimmen, die Südtiroler Caritas ist jedesmal als Gast dabei. Drei Tage lang sprechen wir über die aktuellen Themen, diesmal waren es Arbeitslosigkeit, Armut und in vorderster Linie die Flüchtlingsfrage; denn hier brauchen wir dringende Entscheidungen auf EU-Ebene, um von einer Wirtschaftsunion zu einer Solidaritätsunion zu gelangen. Es kann nicht sein, dass der Friedensnobelpreisträger EU an dieser Frage scheitert, aber uns ist bewusst dass es eine Gratwanderung sein wird.
Gerade sind wieder Verhandlungen zur Aufteilung der Flüchtlinge auf die EU-Mitgliedsländer daran gescheitert, dass England, Spanien und Frankreich sich zurückziehen, gibt es überhaupt einen politischen Willen zur Lösung des Problems?
Grundsätzlich wird das Thema von politischer Seite gern instrumentalisiert – in Österreich wird die Flüchtlingsfrage oft mit den Themen Sicherheit und Kriminalität vermischt. Auch schüren Rechtspopulisten die Ängste in der Bevölkerung und bei den Bürgermeistern, Ängste vor dem was uns fremd ist. Diese Haltungen in der Bevölkerung müssen wir sehr wohl auch ernst nehmen. Die jahrelangen populistischen Tiraden gegen Flüchtlinge und Asylanten tragen nun ihre Früchte.
Glauben Sie noch daran, dass die EU eine gemeinsamen Weg findet, um die Flüchtlingskatastrophe sachpolitisch zu lösen?
Vor 4 Wochen haben wir die schlimmste Flüchtlingstragödie im Mittelmeer erlebt, mehr als 1.000 Menschen sind ertrunken und die Betroffenheit war überall groß. Ich habe mit der Caritas Wien eine Gedenkkundgebung vor dem Außenministerium organisiert, zu der 4.000 Menschen gekommen sind, die halbe Bundesregierung war auch dabei. Und was ich gesehen habe waren nicht die Politiker, sondern die Menschen und ihre Betroffenheit über das Sterben im Mittelmeer. Gleichzeitig bin ich aber enttäuscht bis deprimiert, wenn ich daran denke dass vor anderthalb Jahren dieselbe Betroffenheit geherrscht hat, als vor Lampedusa 300 Flüchtlinge ertrunken sind. Da hat sich wirklich nichts geändert, es gab damals große Ankündigungen für mehr Entwicklungszusammenarbeit, mehr Europa, aber da ist nichts geschehen.
Nicht nur nichts geschehen, sondern es scheint so, als ob das Gegenteil eingetreten wäre?
Ja, das ist so. Die Festung Europa wurde in den letzten Jahren aufgerüstet und wenn ich höre, man denkt jetzt daran, Australien als Vorbild für Einwanderung heranzuziehen, dann sehe ich schwarz. Denn das darf es nicht werden, eine rigorose Politik, die nur auf die Wahrung der Grenzen schaut und die Flüchtling zur Umkehr zwingt; derzeit diskutiert die EU, mit welchen Militäraktionen man die Flüchtlingsboote zerstören kann, anstatt eine dringend nötige wirkliche Rettungsaktion Mare Nostrum zu starten, die den einzelnen Bürger zwischen 22 und 30 Cent kosten würde. Es ist alles eine Frage des politischen Willens.
Derzeit herrscht keine klare Linie, wo die Prioritäten liegen sollen, man diskutiert gleichzeitig über kurzfristige Aktionen wie die Bekämpfung der Schlepper wie über langfristige Strategien zur Änderung des Dubliner Abkommens. Herrscht Chaos?
Es herrscht Chaos, Unwissenheit; es geht ja schon los, wenn wir nur die Begriffe anschauen, die verwendet werden: Seit dem EU-Gipfel vor einer Woche reden wir nicht mehr von Flüchtlings- sondern von Schlepperbooten. Aber was sind das für Boote, frage ich, das sind Fischerboote die in Nordafrika ablegen, einfachste Transportmittel. Mit diesen fahren verzweifelte Menschen übers Meer, weil sie hoffen bei uns Schutz und ein Recht auf Asyl zu finden. Alle EU-Mitgliedstaaten haben dieses Recht auf Asyl unterzeichnet und jetzt wird mit Militärgewalt versucht, jene Menschen fernzuhalten, die vor Krieg und Verfolgung in Syrien, Eritrea und Afghanistan flüchten. Jeder sieht in den Nachrichten, wie schlecht dort die Zustände sind, wie den Menschen die Köpfe abgeschnitten werden, Frauen vergewaltigt, gemordet und vernichtet wird. Da würde ich auch meine Familie packen und fliehen.
Es ist doch aber auch eine konkrete Lösung, sich auf die Schlepper zu konzentrieren, und diese illegale Menschenverfrachtung zu stoppen?
Wenn es Herausforderungen gibt, die sich nicht einfach lösen lassen, brauchen wir Schuldige. Die EU-Regierungschefs wollen nicht schuldig sein für das Massensterben im Mittelmeer. Sie haben sich nun eingeschossen auf die Schlepper, auch wenn sie die einzige Möglichkeit für die Flüchtenden sind, hierher zu kommen. Aber mit Einzelmaßnahmen kann man hier nicht vorgehen. Wir von der Caritas haben eine Initiative gegründet, die sich „gegen Unrecht“ nennt und wir fordern folgendes: die Wiedereinsetzung der Rettungsaktion Mare Nostrum, die Schaffung von legalen Möglichkeiten für die Flüchtlinge, um Asyl zu beantragen, das kann das Botschaftsasyl in Afrika sein, das können Korridore sein. Österreich hat auf direktem Weg 1.500 Menschen aus Syrien, dem Libanon und Jordanien aufgenommen, über die Asylanträge in den Ländern dort. Das ist möglich für besonders verletzliche Menschengruppen.
Es gibt bereits gute Modelle der Flüchtlingsaufnahme, gerade die Caritas Österreich hat hier große Erfahrung mit einem Netzwerk von Asylanwälten beispielsweise oder der sozialen und rechtlichen Betreuung von Migranten; warum hat man das Gefühl, wir fangen bei jedem neuen Flüchtlingszustrom bei Null an, lernen wir nicht aus den Erfahrungen?
Es stimmt, wir machen derzeit den dritten Schritt vor dem ersten und reagieren vielmehr als dass wir agieren. Solange jedoch keine einheitlichen Mindeststandards zur rechtlichen und sozialen Betreuung auf europäischer Ebene definiert sind, ist es schwierig für die einzelnen Staaten, auch weil derzeit Katastrophenalarm herrscht. In Österreich wird beispielsweise ein Notstand herbeigeredet, den es nicht gibt, es wurden Zelte aufgestellt, dabei sind es nur 20 Prozent der Gemeinden die wirklich Flüchtlinge unterbringen, die restlichen 80 Prozent tun das nicht. Wir haben 2015 sicherlich mehr Asylanträge zu erwarten als 2014, als es 28.000 waren, aber hochgerechnet wurde mit dem bisherigen Spitzentag von 300 Asylanträgen an einem Tag.
Wird hier politische Panikmache betrieben?
Ich glaube es geht um Überforderung, der Wille zur Lösungsfindung ist bei allen zwar da, das sieht man wenn Treffen zur Frage einberufen werden, sind alle vom Innenministerium bis zu den Gemeindevertretern dabei; trotzdem klappt dann einiges oft nicht, wenn ein Bürgermeister sich dagegen wehrt, dass in seiner Gemeinde ein Gebäude für Flüchtlinge eingerichtet wird, das die Kirche zur Verfügung gestellt hätte. Hier ist noch viel zu tun, vor allem in der Bewusstseinsarbeit in der Bevölkerung und bei den Bürgermeistern, dass man schon vor der Neuansiedelung von Flüchtlingen die jeweilige Gemeinde begleitet und informiert.
Durch das große Flüchtlingsaufkommen ergeben sich auch neue Phänomene; ich habe gehört, Sie waren am Bozner Bahnhof, wo Flüchtlinge am Ausreisen gehindert werden und derzeit vielfach von Freiwilligen betreut werden, wie war Ihr Eindruck von dort?
Diesen Menschen wird die Reisefreiheit verweigert und das ist schon einmal gegen die europäische Gesetzgebung; auch hier muss ich wieder an die Gesamtverantwortung Europas denken, denn jeder versteht, dass das Dubliner Flüchtlingsabkommen somit gescheitert ist. Wenn ich daran denke, dass 2014 insgesamt 7.300 Menschen am Brenner zurück nach Italien geschickt wurden, und dass es andererseits nach den Anschlägen von Charlie Hebdo selbstverständlich für die österreichische Regierung war, ein Sicherheitspaket für gepanzerte Fahrzeuge und Hubschrauber in der Höhe von 300 Millionen Euro durchzuwinken; oder wenn wir den Betrag für die Menschenrettung einsetzen könnten, der derzeit für eine Kärntner Pleitebank zur Verfügung gestellt wird, dann bin ich deprimiert und ich schwanke zwischen Enttäuschung und Wut. Als Motivation für mich gilt der Grundsatz, wir können zwar nicht die Welt retten, doch ich bin überzeugt, dass wir es versuchen sollten.