Economy | Zebra
Gute Reise
Foto: Anna Mayr
Die optimale touristische Unterkunftsform ist für Emanuele Dal Carlo der klassische kleine Albergo: „Er wird von einer einheimischen Familie geführt, die den Gästen als eine Art Kulturermittlerin dient, er gibt der lokalen Bevölkerung Arbeit und lässt den Rest eines Ortes seinen ursprünglichen Charakter beibehalten“, sagt der Venezianer während er durch ein menschenleeres Gässchen manövriert, eine Brucke und einen Durchgang passiert, um im nächsten Augenblick eine Flaniermeile nahe der Rialtobrücke zu queren und in die nächste Gasse einzubiegen. Der Venezianer weiß, wie er den Touristenstrom, von dem seine Stadt tagtäglich heimgesucht wird, umgehen und schnellstmöglich von einem Ort zum nächsten gelangen kann. In einem unscheinbaren Gässchen bleibt er stehen. „Es gibt noch ein Venedig abseits des Tourismus, aber hier ist es nicht!“, sagt Dal Carlo und zeigt auf eine Plakette an einer Haustür, „und da, noch eins!“ Auch an einer Tür gegenüber prangt das gleiche Schild mit der Aufschrift „L.T.“ Es steht für „Località Turistica“ – eine Wohnung, die an Tourist*innen vermietet wird.
Eine Wohnung, in der keine Venezianer*innen mehr leben, sondern Menschen aus der ganzen Welt ein paar Tage nächtigen. Unter dem Schild wurde ein Codeschloss angebracht. Dal Carlo erklärt „Die Menschen bekommen einen Code zugeschickt und kommen ohne jeglichen menschlichen Kontakt in diese Wohnung im Herzen Venedigs.“ Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist die Wohnungen auch auf großen Onlineportalen wie Airbnb zu finden.
Vom Startup zum Megakonzern
Das Unternehmen Airbnb mit Sitz im kalifornischen Silicon Valley stellt als Online-Plattform den Kontakt zwischen Gastgeber*in und Gast her und ist ausschließlich für die Abwicklung der Buchung verantwortlich. Die Transaktion findet dabei über die Plattform statt.
Der Gast zahlt den Betrag für die Buchung an Airbnb. Gastgeber*innen wird der Betrag erst 24 Stunden nach Anreise ausgezahlt, um sicherzustellen, dass der Gast die Unterkunft so vorfindet, wie sie angeboten wurde. Das ist bequem und gibt Sicherheit. Airbnb kassiert für diese Dienstleistung 15 Prozent der anfallenden Kosten von den Reisenden und 2 bis 5 Prozent von den Vermieter*innen.
Was ursprünglich von zwei Studenten angesichts mangelnder leistbarer Kurzzeitunterkünfte in Amerika entwickelt wurde, gilt heute als ein Paradebeispiel der Sharing Economy. Längst wird aber nicht mehr nur das freie WG-Zimmer oder die eine Ferienwohnung vermietet. Es ist ein lukratives Geschäft geworden und heute kaufen internationale Investoren ganze Mehrfamilienhäuser, um sie über die Plattformen an Touristen zu vermieten.
Das innovative und einst gemeinnützig motivierte Startup Airbnb ist heute ein weltweit agierender Megakonzern, der 2021 einen Rekord-Umsatz von 4,81 Milliarden US-Dollar verzeichnete und mittlerweile ganze Wirtschaftszweige umkrempelt und in Metropolen wie Amsterdam oder Barcelona den Wohnungsmarkt komplett auf den Kopf stellt – zu Ungunsten der lokalen Bevölkerung, Studierender und Arbeitender, die durch die Verknappung von Mietwohnungen keinen Wohnraum mehr finden oder sich die Mieten nicht mehr leisten können.
Auch in Südtirol hat das Unternehmen Fuß gefasst, über 1000 Unterkünfte werden hierzulande auf der Plattform angeboten.
Außerdem bieten derlei Plattformen kaum Kontrollmöglichkeiten und lange Zeit agierten die Vermieter*innen in einer Art Grauzone. Erst nach und nach wurden die Behörden darauf aufmerksam und heute herrscht in den meisten Orten eine Meldepflicht inklusive der Abgabe von Steuern. Ein großer Teil der Wertschöpfung wandert aber nach wie vor direkt zu Airbnb nach Kaliforniern. Auch in Südtirol hat das Unternehmen Fuß gefasst, über 1000 Unterkünfte werden hierzulande auf der Plattform angeboten.
Eine Stadt in der Zwickmühle
Auf Venedig wirken sich die privaten Kurzzeitvermietungen massiv aus. Emanuele Dal Carlo begann 2014 damit, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Der Werbefachmann war neugierig und suchte fieberhaft nach einer möglichen Alternative, deren Erträge der lokalen Gemeinschaft und der Stadt zugutekommen.
Eine erste Untersuchung des Wohnungsmarktes und der Vermietungsplattformen förderte Erstaunliches zutage: Von den in Venedig gemeldeten 27.000 Wohneinheiten fanden sich 2015 über 12.000 auf Airbnb, wovon fast ein Drittel nicht als touristische Unterkunft gemeldet war, sprich keinerlei Steuern oder Kurtaxen abführte. „Das hat eingeschlagen wie eine Bombe!“, erinnert sich Dal Carlo, der selber mittlerweile in Mestre wohnt. Die Bevölkerung Venedigs ist seit den 60er Jahren konstant geschrumpft, allein seit 2006 verließen 10.000 Venezianer*innen ihre Heimat und erst Ende Mai dieses Jahres ließ die Nachricht aufhorchen, dass die Stadt erstmals weniger als 50.000 Einwohner*innen zählt.
Venedig verzeichnete vor der Pandemie Rekorde von 30 Millionen jährlichen Besucher*innen, bis zu 100.000 täglich. Und derzeit sieht es so aus, als würden bald alle vorpandemischen Rekorde gesprengt, denn die Stadt ist gefragt wie nie.
Von den in Venedig gemeldeten 27.000 Wohneinheiten fanden sich 2015 über 12.000 auf Airbnb, wovon fast ein Drittel nicht als touristische Unterkunft gemeldet war, sprich keinerlei Steuern oder Kurtaxen abführte.
Vielen Menschen, die hier leben, ist der Massentourismus ein Dorn im Auge und wer offenen Auges durch die Stadt geht, kann so manches Transparent oder sogenannte Protest-Wäsche von den Leinen hängen sehen, die den Frust der Menschen sichtbar machen. Auch direkte Anfeindungen von Touristen sind keine Seltenheit. Und dennoch: „Venedig ist ohne Tourismus nicht lebensfähig, die Menschen sind davon abhängig und das wissen wir spätesten seit der Pandemie sehr genau“, sagt Dal Carlo. Es gehe daher längst nicht mehr um das Ob, sondern lediglich um das Wie.
Fair zum Ort und seinen Menschen
Dal Carlo war von klein auf fasziniert vom Tourismus und neugierig auf die vielen grundverschiedenen Menschen, die er in seine Stadt brachte. „Ich reise selber für mein Leben gerne!“, sagt er und erklärt, wie Tourismus die Völkerverständigung vorantreibt und Menschen dadurch eine Existenz aufbauen können.
Als Gründer und erster Finanzier der Genossenschaft Fairbnb weiß er auch von deren abenteuerlichen Entstehungsgeschichte zu berichten: Nach den ersten Erhebungen und Analysen wurde ein Business Model entwickelt und als 2016 die Domain fairbnb. com registriert werden sollte, fand man heraus, dass es bereits eine Gruppe gab, die unter demselben Namen in Holland aktiv war: Junge Leute aus Spanien, Litauen und Belgien, die in Amsterdam keinen leistbaren Wohnraum mehr fanden, hatten die Initiative ergriffen und waren dabei, eine ähnliche Idee umzusetzen wie Dal Carlo und sein Team.
Man trat in Kontakt und nach zwei Jahren Planung und demokratischer Entscheidungsfindung wurde 2018 in Bologna die Genossenschaft gegründet. Aus der Mission der Genossenschaft geht hervor, dass sie sich an den Nachhaltigen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen orientiert und das Wohl der Menschen und ihrer Lebensräume in den Mittelpunkt stellt. Dann kam die Pandemie und brachte das Vorhaben beinahe zum Erliegen. Nun startet es wieder durch und verzeichnet inzwischen 700 Anbieter*innen von Unterkünften in Italien, Belgien, Spanien, Frankreich, Portugal, Holland und einzelne auch in Deutschland.
Wer in Venedig Fairbnb-Host werden will, muss selber vor Ort leben, mit den Gästen in direkten Kontakt treten und darf nicht mehr als eine Ferienwohnung betreiben. Die Kriterien für Vermieter*innen variieren jedoch von Ort zu Ort. Der Gründer erklärt: „Wenn ein Ort von Abwanderung bedroht ist und von ein paar mehr Ferienwohnun- gen profitieren kann, dann gelten andere Regeln.“ Um die Lage an den einzelnen Orten optimal einschätzen zu können, arbeitet die Genossenschaft mit lokalen Vertreter*innen zusammen, die individuelle Kriterien erstellen, die Hosts vor Ort und lokale Sozialprojekte betreuen und für diese Dienstleistungen eine Provision von Fairbnb erhalten. „Wer vor Ort lebt, weiß am besten was der Ort braucht!“, sagt Dal Carlo. Um Hosts dazu zu motivieren, ihre Unterkunft über Fairbnb zu vermieten, fällt für diese keinerlei Provision an und sie können auch weiterhin andere Plattformen nutzen.
Wir werden die großen Player nicht verdrängen, aber wir können ein Zeichen setzten und eine Alternative für Menschen sein, denen Nachhaltigkeit in all ihren Facetten wichtig ist!“Emanuele Dal Carlo
Dal Carlo ist Realist: „Wir werden die großen Player nicht verdrängen, aber wir können ein Zeichen setzten und eine Alternative für Menschen sein, denen Nachhaltigkeit in all ihren Facetten wichtig ist!“ Gäste zahlen auch hier eine Buchungsgebühr von 15 Prozent. Eine Hälfte davon fließt an Fairbnb, die andere an lokale Vereine, soziale Initiativen oder Umweltschutzor- ganisationen. Mit steigendem Erfolg der Genossenschaft soll künftig der Anteil, der in die Struktur fließt, nach und nach weniger werden und jener für die Projekte
ansteigen.
Der Ruf Venedigs
Fairbnb-Gäste in der Lagunenstadt können selbst entscheiden, welcher Einrichtung der Anteil ihrer Buchungsgebühr zugutekommt. Eine dieser Initiativen, die künftig durch die Genossenschaft querfinanziert werden soll, ist die Jugendorganisation „Venice Calls“.
Ihr Präsident Sebastiano Cognolato lädt zum Gespräch auf sein Boot, das er dazu in einen ruhigen Kanal nahe des Campo San Barnaba lenkt. „Venedig war von Globalisierung betroffen, bevor das Wort überhaupt existierte“, sagt der 26-jährige Student und beschreibt, wie die Stadt seit jeher durch ihre internationalen Handelsbeziehungen und als Umschlagplatz von Waren und Menschen aus der ganzen Welt stets ein höchst empfindliches Ökosystem war.
Wenn irgendwo auf der Welt eine Krise anstand, eine Krankheit grassierte oder Naturereignisse Probleme verursachten, hatte es indirekt oder direkt Auswirkungen auf die Stadt. Venedig sei auch heute noch der Spiegel weltweiter Problematiken wie Pandemie, Globalisierung, Massentourismus oder Klimawandel. „Viele Jugendliche, die hier aufwachsen, beobachten diese Entwicklungen mit Sorge und wollen etwas unternehmen“, sagt Cognolato.
Man wollte der eigenen Stimme Ausdruck verleihen und die Initiative ergreifen. So wurde 2018 der Verein „Venice Calls“ gegründet, der insbesondere nach dem Hochwasser im Herbst 2019 und durch die Pandemie einen großen Aufschwung erlebte und heute über 130 Mitglieder zählt. Die Jugendlichen treffen sich regelmäßig, sammeln Spenden und organisieren diverse Aktionen wie Müllsammlungen, Strandsäuberungen, Schulbesuche zum Thema Klimawandel und Ökologie, Nachbarschaftshilfe, Informationsabende oder Unterstützung bei der Erhaltung historisch wertvoller Gebäude, Einrichtungen und Handwerksbetriebe für die lokale Bevölkerung Venedigs.
„Wir alle leben indirekt oder direkt vom Tourismus, aber wir dürfen deshalb all das viele andere, das diese Stadt ausmacht, nicht aufgeben“, sagt Cognolato. Dazu könne jede*r beitragen, der die Stadt besucht. Und auch andere Städte und Tourismusdestinationen können für die kommenden Generationen von Einheimischen, aber auch von Tourist*innen, nur erhalten bleiben, wenn sich an der Art und Weise, wie wir reisen, etwas grundlegend ändert. „Junge Menschen brauchen Perspektiven, sonst werden lebendige Orte zu seelenlosen Freilichtmuseen!“
Dann zieht der junge Venezianer wieder los und winkt nochmal von seinem Boot, bevor es von einem der unzähligen venezianischen Kanäle verschluckt wird.
Fotos: Anna Mayr
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Danke an Salto für den
Danke an Salto für den Beitrag.
Wann wird man in Europa aufwachen und verstehen, wieviel Kapital in die USA abfließt und man sich selbst das Grab schaufelt.
Nach welchen Werten leben wir überhaupt?..........entscheidet in Zukunft irgend ein ausländisches Unternehmen über Sein und Nichtsein?
Dann gute Nacht.......schönes Land!
Diesen Kommentar kann ich nur
Diesen Kommentar kann ich nur unterschreiben.