Environment | Murmelttierdebatte

Und jährlich grüßt das Murmeltier

Das jährliche Murmeltier-Karussell aus Debatte, Abschussdekret, Rekurs und abgebrochener Jagd: Das Problem wird auf das zeitgenössische Landwirtschaften verschoben.
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Wie zählt man Murmeltiere, um zu wissen, dass in Südtirol zu viele von ihnen unterwegs sind? Der Ärger der Almbetreiber, die Klagen von Bauern und die Sorge um Infrastrukturen sind ein Thermometer. 50.000 Individuen werden angegeben. Einige Jagdaufseher zählen die Tiere, einige schätzen, indem sie von den Bauten und Wühlspuren ausgehen. Vom Stilfserjoch Nationalpark und den Domänenverwaltungen liegen keine Daten vor. Es gibt keine lokale wissenschaftliche Untersuchung zur Verteilung und zur Anzahl.

Anfang September wird das Alpen-Murmeltier jedes Jahr Gesprächsthema, wenn das Abschussdekret vorliegt. 958 Murmeltiere sollten dieses Jahr geschossen werden. Jedes Jahr legt der Verein L.A.V. Lega Anti-Vivisezione beim Verwaltungsgericht Rekurs ein. L.A.V. gab am 16.09.2015 bekannt, dass auch dieses Jahr die Murmeltier-Jagd abgebrochen und das Abschussdekret vom Verwaltungsgericht geprüft wird. Das Abschussdekret vom August 2013 bestätigte das Verwaltungsgericht im Mai 2015 als rechtmäßig. Wie es dieses Mal ausgeht, entscheidet sich in den nächsten Monaten.

Der Grund für die Abschüsse: Murmeltiere richten in den Bergmähwiesen durch Wühlen und Graben von Bauten und Fluchtröhren Schäden an. In einigen Jagdbezirken melden die Jagdaufseher den Forststationen Wühlen in Pistenanlagen, neben Hochspannungsmasten und an anderen Infrastrukturen. Nur die Jagd könne die Bestände regulieren. Aber – lange hält die Regulierung nicht an: Nach zwei, drei Jahren drängen die Murmeltiere der Kolonie oder der umliegenden Population wieder vor und die ganze Arbeit beginnt von vorne. Daher rät mancher zum radikalen Schuss in stark bewirtschafteten Arealen.

Das Abschussdekret motiviert die erforderlichen  Abschüsse damit, dass die Murmeltiere die Almwirtschaft, den alpinen Tourismus und sogar die Biodiversität empfindlich treffen. Die dokumentierten Schäden der Murmeltiere machen einigen Almbetreibern und Viehbauern viel mehr Arbeit. Das Thema über einen längeren Zeitraum ins Zentrum der gesellschaftlichen Diskussion zu rücken und viele wesentlich weitreichendere Eingriffe zeitgenössischen Landwirtschaftens auszublenden,  verlangt nach einem Zurechtrücken. Denn Murmeltiere stehen wohl kaum im Verhältnis zur Problematik der schwindenden Biodiversität und der degradierten Almlandschaften – wegen Überdüngung, fehlendem Weidemanagement und der totalen Erschließung.

Thomas Wilhalm, Konservator für Botanik am Naturmuseum Südtirol stellt fest: „Wir arbeiten als Dokumentationsstelle für die Flora und Fauna Südtirols. Landesweit fallen uns bei den Erhebungen große Schäden an der Kultur- und Naturlandschaft auf, verursacht durch Weidetiere, Gülle oder Vernachlässigung. Wo regelmäßig und in größeren Mengen Gülle ausgebracht wird, verändert sich die Vegetation schnell: Glatthafer und Goldhafer, typische Wiesenkräuter verschwinden wie viele andere Arten. Es bleiben Bärenklau und Sauerampfer, die kein Heu ergeben und kaum Nahrung für Schmetterlinge, Honig- und Wildbienen bieten.“

Der Landwirt wird solche Wiesen schließlich umfahren und neu einsäen. Auch das kostet Mühe und Subventionen. Weidende Pferde scharren in den sensiblen Moorböden und fressen – anders als Kühe – dort genauso alles kahl wie auf den Almböden. Die Grasnarbe auf Pferdeweiden ist bis auf wenige Millimeter abgefressen und zurück bleiben blütenlose Insektenwüsten. Große Schafherden und Milchkühe werden in der Regel gut betreut, aber Schafgrüppchen, Jungrinder und Pferde bleiben häufig ohne Hirt und ohne mechanische Weideleitsysteme, vor allem wenn sie „im Berg“ sind. Daher bleiben sie zu lange auf einer Stelle oder grasen zu weiträumig. Auf solch ungeregelten Weiden stellen sich im Lauf der Jahre die Zeigerpflanzen ungepflegter Weiden ein wie Wacholder und Wermut.

Der Ausweg aus dem jährlichen Murmeltier-Karussell wäre, die alpine Raumordnung neu zu entwerfen: Nicht alles kann überall stattfinden, sondern muss in Abstimmung zwischen Gesellschaft und ökologischen Bedingungen geregelt werden. Dann sind auch langfristige Lösungen möglich, die nicht nur von (wenigen) Interessensgruppen getragen werden.