Europa am Scheideweg

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Vor der Philharmonie in Trient hat sich eine Schlange gebildet. Trotz des schlechten Wetters – es regnet immer wieder, mal mehr, mal weniger – herrscht im Altstadtzentrum der Provinzhauptstadt reges Treiben. Auf den Gassen rund um den Domplatz herum fand gestern nämlich nicht nur ein Wochenmarkt statt, sondern auch der Auftakt der 20. Ausgabe des „Festival dell’Economia di Trento“. Das Festival ist auch der Grund für die Schlange vor dem Philharmonie-Gebäude. Im Inneren findet in Kürze eines der ersten Ereignisse des viertägigen Events statt. Das Wirtschaftsfestival steht in diesem Jahr unter dem Motto „Rischi e scelte fatali. L’Europa al bivio“.
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Europäisches Heer - ja oder nein?
Streng diesem Gedanken folgt auch die Frage-Antwort-Runde mit vier Experten, auf die die Interessierten hier bereits eifrig im Regen warten. Es geht um die konkrete Frage, was wichtiger ist: Investitionen der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten in Verteidigung oder die Gründung eines gesamteuropäischen Heers? Seit dem Einfall russischer Truppen in die Ukraine im Februar 2022 und durch die Wiederwahl Donald Trumps in den USA werden in Europa zunehmend Stimmen für ein eigenes Heer laut. Denn einerseits gibt es auf dem europäischen Kontinent zum ersten Mal Krieg seit der Gründung der EU und andererseits vertritt US-Präsident Trump eine sehr kritische Haltung gegenüber der NATO, die ohne die Vereinigten Staaten massiv an Stärke einbüßen würde.
An der Diskussion zu diesem Thema nehmen vier Gäste Teil: Vincenzo Camporini, ehemaliger Chef des Verteidigungsstabs; Veronica De Romanis, Professorin an der Universität Luiss Guido Carli in Rom; Federico Fabbrini, Professor an der „Dublin City University“ und Francesco Nicoli, Professor an der technischen Hochschule Turin (Politecnico di Torino).
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Der ehemalige Kampfpilot Camporini unterstrich während seines Redebeitrages, dass ein europäisches Militärmodell nach NATO-Vorbild durchaus umsetzbar wäre. Zunächst müsse jedoch garantiert sein, dass die einzelnen Länder über alle notwendigen Fähigkeiten verfügen und ihre Ausrüstungen untereinander kompatibel seien.
Ein Problem bestehe darin, dass jedes Land seine eigenen Rüstungsunternehmen und somit unterschiedliche Ausrüstung habe. Im Falle eines Einsatzes könne dies zu unnötigen Herausforderungen führen. „Deshalb müssten alle Länder investieren, aber nicht unabhängig und chaotisch, sondern nach einem gemeinsamen Plan“, so der Militärexperte.
Professorin De Romanis betonte, dass es für ein europäisches Heer fiskalische Regeln brauche, da die EU-Länder zwar eine gemeinsame Währung, aber keine gemeinsame Haushaltskontrolle besitzen. Investitionen in Verteidigung seien ihr zufolge wichtig, aber: „Wir stehen auch vor anderen Herausforderungen wie der demografischen Krise, der grünen und digitalen Transformation oder den Schwierigkeiten des Sozialstaats. Diese Bereiche erfordern ebenfalls erhebliche Investitionen“, beteuert die Professorin.
„Wir stehen auch vor anderen Herausforderungen wie der demografischen Krise, der grünen und digitalen Transformation oder den Schwierigkeiten des Sozialstaats.
Professor Fabbrini sieht die Lösung in Europas Vergangenheit, genauer gesagt bei der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) von 1951. Diese sah ein gemeinsames Heer, ein gemeinsames Budget und ein föderales Kommando, eingebettet in die Nato, vor. „Juristisch gesehen, könnte dieser alte Vertrag reaktiviert werden. Das wäre einfacher als einen neuen EU-Vertrag zu schaffen. Trotzdem bleibt es eine sehr kreative Option“, so seine Einschätzung.
Professor Nicoli erklärte schließlich, dass die europäische Bevölkerung zwar dafür sei, eine gemeinsame Verteidigung zu etablieren, jedoch keine Mehrkosten wünsche. „In ihren Augen sollen nationale Verteidigungsausgaben auf EU-Ebene gebündelt werden“, analysiert der Professor. Eine große Herausforderung sehe er hier jedoch bei nationalen Interessen und Verflechtungen mit heimischen Industrien. Der technologische Wandel und neue Start-ups ohne enge Verflechtung mit Regierungen könnten hier langfristig neue Wege eröffnen.
Fazit: Die vier Experten sind sich einig: Vorrang haben zunächst gezielte und koordinierte Investitionen in die nationalen Verteidigungssysteme – als Grundlage für eine spätere, glaubwürdige gemeinsame europäische Armee. Ein sofortiger Aufbau eines EU-Heeres ist politisch, finanziell und strukturell noch nicht realistisch.
Trotz des anfänglichen Andrangs vor dem Gebäude war der Saal während der etwa einstündigen Veranstaltung nicht zur Gänze gefüllt. Das Interesse der Anwesenden war jedoch merklich hoch.
Das Wirtschaftsfestival findet noch bis einschließlich 25. Mai statt. Besonders bei Schulklassen scheint das Festival auf viel Zuspruch zu stoßen. Immer wieder laufen Gruppen von Schülern mit ihren Lehrpersonen über den Domplatz, hüpfen von einem Termin zum anderen. Aber nicht nur auch andere Interessenten tummeln sich neugierig um die orangen Stände und Hinweisschilder der einzelnen Themensegmente. Es ist beliebt, das „Festival dell’Economia di Trento“, trotz des schlechten Wetters.
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Das Festival
Das Trientner Wirtschaftsfestival findet in diesem Jahr zum 20. Mal statt. Bei über 300 Terminen werden 6 Nobelpreisträger, 16 Minister, 107 akademische Referenten, 45 nationale und internationale Ökonomen, 66 Vertreter nationaler und europäischer Institutionen sowie 61 Manager und Unternehmer erwartet. Im Zentrum der zahlreichen Panels, Vorträge und Reden steht dabei Europa am Scheideweg. Konkret werden dabei Themen wie Italiens Wirtschaft, Tourismus, Außenpolitik, Finanzen, Handel, Künstliche Intelligenz und viele mehr. Die Veranstaltung feierte gestern (22.05.) ihren Startschuss und findet am Sonntag (25.05.) ihr Ende.
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Abenteuer Geld
Das Festival widmet sich in einer Ausstellung auch der „Die Entwicklung des Bargelds. Vom Gold bis zur digitalen Währung“. In der „Fondazione Caritro“ wird den Besucherinnen und Besuchern hier durch Videobeiträge oder geschichtsträchtige Exponate, die Entwicklung vom Tauschhandel bis hin zur modernen Währung nähergebracht. Unter anderem kann man eine Nippurische Tauschmarke für Gerste aus vorchristlicher Zeit bestaunen. Gerste war damals eine Währung, die auch verliehen werden konnte.
Darüber hinaus kann man die Geschichte der ersten Münzen aus Edelmetallen wie Gold und Silber bis hin zum Druck der ersten Lira-Scheine, die etwa die Größe eines DIN-A5-Blattes hatten, erleben. Dabei können römische Sesterzen oder erste britische Pfundmünzen begutachtet werden. Zudem enthält die Ausstellung Informationen zu historischen Ereignissen, die in Zusammenhang mit Geld stehen. So zum Beispiel die historische Inflationswelle im Deutschland der 1920er Jahre oder die Einführung des Euros Anfang des 21. Jahrhunderts.
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