Politics | Türkei

Wie weit kann Erdogan noch gehen?

Gegenüber der Türkei findet die EU immer deutlichere Worte. Italiens Regierung schweigt weiterhin.

Der bis vor kurzem aussichtsreichste Kandidat für einen EU-Beitritt schlittert immer weiter in die Autokratie. Willkürliche Festnahmen von tausenden Menschen, Entlassungen, auf offener Straße gelynchte Menschen, die Aussetzung der Menschenrechtskonvention und die Diskussion über eine Wiedereinführung der Todesstrafe rücken einen eventuellen EU-Beitritt zunehmend in die Ferne. Für Erdoğan scheint das nach dem gescheiterten Militärputsch inzwischen zweitrangig sein. Die EU hingegen ist durch den Flüchtlings-Deal aber weiterhin von der Türkei abhängig. Dementsprechend zurückhaltend waren bisher auch die Mahnungen, die an die Türkei gingen. Rote Linien wurden gesetzt, aber wo genau sie liegen, wurde flexibel gehandhabt. Von Italiens Regierung kam nach der Solidaritätsbekundung unmittelbar nach dem gescheiterten Putschversuch noch gar keine Stellungnahme zu den aktuellen Geschehnissen. Und auch die deutsche Bundesregierung übt sich bislang in Zurückhaltung: Man beobachte die Entwicklungen „mit großer Sorge“, heißt es in einem offiziellen Statement.

Zuletzt wurde aber auch in Deutschland die Kritik schärfer. Nachdem der Regierungssprecher Steffen Seibert eine Wiedereinführung der Todesstrafe als Ende der EU-Beitrittsverhandlungen bezeichnete, will der Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer (CSU) diesen Schritt gar nicht erst abwarten. Er weist auf die Milliarden an EU-Geldern hin, welche die Türkei im Rahmen der sogenannten Heranführungshilfe derzeit immer noch erhält, und bezeichnet diese als Hohn. Singhammer fordert das sofortige Einfrieren dieser Hilfsgelder und sagt gegenüber der Süddeutschen Zeitung, dass sich die EU-Hilfe angesichts der aktuellen Entwicklungen als „völlig wirkungslos“ erwiesen habe. Im Rahmen des Programms sollten im Zeitraum 2014-2020 4,45 Milliarden Euro an die Türkei gehen. Bis 2013 erhielt die Türkei bereits 4,8 Milliarden.

Deutlichere Worte als Italien und Deutschland wählt Österreich. Für Außenminister Sebastian Kurz muss nicht erst eine Wiedereinführung der Todesstrafe die rote Linie darstellen. Diese bestehe bereits in der Willkür, mit der aktuell in der Türkei tatsächliche und vermeintliche Erdoğan-Gegner aus dem Verkehr gezogen werden. Auch gegenüber den Pro-Erdoğan-Demonstranten auf österreichischem Boden zeigt Kurz wenig Toleranz: "Wer sich in der türkischen Innenpolitik engagieren will, dem steht es frei, unser Land zu verlassen."

Dass die Kritik gegenüber dem Vorgehen des türkischen Präsidenten anhalten wird und sie möglicherweise noch schärfere Töne findet, dafür spricht die einhellige öffentliche Meinung. Wirkliche Unterstützer der Politik von Erdoğan sind eigentlich fast nur unter manchen türkischen Einwanderern zu finden. Die Kritik hingegen erstreckt sich ausnahmslos vom rechten bis ins linke Lager. Das ist, wenn es beispielsweise um den Umgang mit Russland und der Ukraine-Krise geht, anders. Der öffentlichen Meinung stehen aber weiterhin handfeste Hindernisse gegenüber, die eventuellen Sanktionen und konkreten Maßnahmen der EU gegen die Türkei im Wege stehen: Wichtige Handelsbeziehungen, die NATO-Mitgliedschaft und die Eindämmung der Flüchtlingszulaufs fallen zurzeit noch stärker ins Gewicht als die Menschenrechtsverletzungen.

 

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Martin B. Fri, 07/22/2016 - 22:37

"handfeste Hindernisse gegenüber, die eventuellen Sanktionen und konkreten Maßnahmen der EU gegen die Türkei im Wege stehen: Wichtige Handelsbeziehungen, die NATO-Mitgliedschaft und die Eindämmung der Flüchtlingszulaufs fallen zurzeit noch stärker ins Gewicht als die Menschenrechtsverletzungen."
Das sagt eigentlich alles. Diktaturen und Menschenverachtung sind nur schlimm, wenn das Land gegen eigene Interessen handelt.

Fri, 07/22/2016 - 22:37 Permalink