Lob des Opportunismus
Stellen Sie sich vor, sie sind auf der Prager Kleinseite unterwegs, haben, vielleicht im Černého vola, im Schwarzen Ochsen, ein Großpopowitzer Bier getrunken, das Ihnen so gut schmeckte, dass sie gleich eins hinterhergekippt haben – und zum Abgleich noch zwei tmávy, zwei dunkle – sind dann ins Freie gegangen und vernehmen plötzlich hinter sich eine Stimme. Sie schauen sich um, sehen aber niemand. Die Stimme lässt nicht locker: „Ich muss“, presst sie hervor, „Ihnen was erzählen!“
Sie spähen angestrengt Richtung Černínpalais, woher die Geräusche stammen. Doch alles, was sie sehen, ist so dunkel wie Ihre letzten beiden Biere. Liegt es also am Großpopowitzer? Eher nicht: „Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle?“, fragt es rhetorisch, „mein Name ist Černín.“ Ihre Mutmaßung, ob es sich um den Grafen Černín handele, wird umgehend dementiert. Nein, was da zu ihnen spricht, ist weder der spukende Schlossgeist noch ein wandelnder Untoter, sondern das P a l a i s Černín.
War es Selbstmord, oder haben die Geheimdienste nachgeholfen? Auch dazu hat der Palast eine Meinung.
In Marek Tomans neuem Roman Chvála oportunismu spielt das noble Bauwerk höchstselbst eine Hauptrolle. Und quatscht über mehr als sechshundert Seiten, ohne langweilig zu werden. Das muss man erstmal hinbekommen als Autor! Lob des Opportunismus heißt die deutsche Ausgabe, Raija Haucks hat Tomans Vorlage für den Wieser Verlag kongenial übertragen.
Der Originaltitel ist ungewöhnlich. Das Tschechische kennt kaum Fremdwörter, doch für Opportunismus gibt es kein heimisches Wort. Liegt es daran, dass sich die Tschechen genau dieser Eigenschaft schämen? Mag sein. Vor allem schämen sie sich des Knechttums, das sich durch die Geschichte des eigentlich sehr widerspenstigen Volks zieht wie ein roter Faden. Oder ein brauner. Dazu später mehr.
Das annus horribilis der Tschechen ist 1620. In der Schlacht am Weißen Berg verlor Böhmens seine Eigenständigkeit an Habsburg. Es geschah am 8. November, und es sollte noch einige Jahrhunderte November bleiben für die Tschechen. Eine gefühlte Ewigkeit verging, bis es mit der ersten tschechoslowakischen Republik wieder einen souveränen Staat gab.
Durchaus glanzvoll ging es zu im italienisch-böhmischen Palais, etwa als der Habsburgerkaiser Leopold II. darin gekrönt wurde.
Zurück zu Meister Černín! Die Ursprünge seines Palasts gehen zurück auf jene Zeit des Autonomieverlusts. Anno 1666 erwarb ein Johann Humprecht Graf Czernin von und zu Chudenitz (tschechisch: Černín z Chudenic) das Gelände oberhalb des Loretoplatzes, auf dem bis heute das Palais steht. Inspiration hatte sich der Graf 1645 auf einer Italienreise geholt, die ihn nach Neapel, Rom, Florenz, Siena und Venedig führte. Als Architekt engagierte Černín den aus dem Tessin stammenden Francesco Caratti, der anschließend gar nicht mehr aus Prag fortwollte und später dort auch starb.
Durchaus glanzvoll ging es zu im italienisch-böhmischen Palais, etwa als der Habsburgerkaiser Leopold II. darin gekrönt wurde. Leider ging es mit seiner Herrschaft bald zu Ende. Manche führten das überraschende Ableben nur 145 Tage nach der Thronbesteigung auf Verabreichung von Gift, andere auf eine Überdosis eines selbst zusammengebrauten Aphrodisiakums zurück. Auch Leopolds Nachfolger bekam Zepter, Reichsapfel und Kaiserkrone im Černínpalais ausgehändigt. Franz II. ging als letzter Kaiser des Heiligen Römischen Reiches in die Geschichte ein (und regierte als Franz I. im durch die Napoleonischen Kriege geschrumpften Kaisertum Österreich weiter).
Auch die Pracht des Černínpalais verblasste. Napoleon Bonaparte ließ in den Gemächern ein Lazarett einrichten, bald diente das Gebäude nur noch als Kaserne. Erst Tomaš Masaryk, Präsident der nach dem Ersten Weltkrieg neu entstandenen Tschechoslowakei, stellte den Glanz früherer Tage wieder her. Nach einem aufwendigen Umbau zog später das Außenministerium in den Palast, mit Präsidentensohn Jan Masaryk als Amtsinhaber – bis zu seinem frühen Tod dortselbst am 10. März 1948. Danach übernahmen die Kommunisten unter Klement Gottwald in der tschechoslowakischen Hauptstadt. Seit drei Jahrzehnten sind sie wieder verschwunden, das Palais blieb Sitz des Außenministeriums.
Wie kommt es, dass die Tschechen im Verlauf ihrer Geschichte immer wieder unter ein fremdes Joch gezwungen wurden?
Der in Prag geborene Marek Toman, selber mit Erfahrung im diplomatischen Dienst ausgestattet, schildert vier Jahrhunderte tschechischer Geschichte aus der Černínperspektive. Das ist durchaus amüsant, hat aber seine Tücken. Der Erzähler ist ein subjektiver, man kann ihm nicht trauen. Dem Palast, wohlgemerkt. Toman schon: Der Autor setzt auf seine Leserschaft und diese mit wohldosierten Fakten so in Kenntnis, dass sie sich ein eigenständiges Urteil erlauben kann. Bezüglich des Černínpalasts lautet es: Trotz seiner Allwissenheit liegt dieser Erzähler häufig daneben. Etwa wenn er sich auf die Seite Reinhard Heydrichs schlägt, der als harter Hund im Protektorat mit ebensolcher Hand regierte. Wenn Toman ob des dilettantisch ausgeführten, doch letzten Endes tödlichen Attentats auf Heydrich seinen Černín barmen lässt: „Leider war das Herz des Protektors nicht ausreichend aus Stahl! Oder vielmehr seine Milz“, spricht aus den Sätzen keine echte Trauer, sondern Schadenfreude.
Mit spärlich eingestreuten Kommentaren geht Toman auf Distanz zu seinem italienischstämmigen Protagonisten: Wenn letzterer in adeliger Borniertheit despektierlich auf das bäuerlich-proletarische Tschechenvolk herabschaut, hält Toman diesem die Stange. Nicht ohne kritische Zwischenfragen zu stellen. Eine lautet: Wie kommt es, dass die Tschechen im Verlauf ihrer Geschichte immer wieder unter ein fremdes Joch gezwungen wurden? Auf die Habsburger folgten die Deutschen, auf diese die Sowjets. Toman hält seinen Landsleuten den Spiegel vor, indem er sie und sich fragt, „ob die Tschechen vielleicht irgendein Talent haben, sich ihre Niederlagen zu organisieren, um sie dann durch ihr Verhalten noch zu vervielfachen?“
Für Tragik ist bei Toman ebenfalls Platz. Sie kommt im längsten Kapitel des Romans zum Ausdruck, die Jan Masaryk und dessen lange Zeit ungeklärtem Tod im Černínpalais gewidmet ist. War es Selbstmord, oder haben die Geheimdienste nachgeholfen? Auch dazu hat der Palast eine Meinung. Sie können aber auch im Schwarzen Ochsen nachfragen. Am besten, Sie nehmen gleich das Buch mit, falls Ihnen dort niemand mehr antworten kann, und lesen ein Weilchen beim Bier. Beides lohnt sich.