Intermedia

Ausgehend von der Geschichte und der Tätigkeit des Archivio di Nuova Scrittura verbindet die Ausstellung unterschiedliche Werkgruppen – von der Konkreten und Visuellen Poesie bis zur Fluxus-Bewegung – mit dem Konzept der Intermedialität. Der Begriff „Intermedia“ wurde 1965 vom US-amerikanischen Fluxus-Künstler Dick Higgins geprägt, der damit „fließende“ Kunstformen bezeichnete, die traditionelle Grenzlinien zwischen den Kunstgattungen überschreiten. Intermedia gleicht einer unentdeckten Welt, die zwischen Collage, Musik, Theater und bildender Kunst angesiedelt ist. Gleichzeitig rückt die Ausstellung die visuell-sprachliche künstlerische Produktion in einen politisch-historischen Kontext und unterstreicht die internationale Ausrichtung sowie die Verbindung mit anderen zeitgleich auftretenden künstlerischen Positionen.
Der Ausstellungsparcours beginnt in den Räumen der Studiosammlung im zweiten Stock. Die dort untergebrachte Abteilung dokumentiert die Geschichte und Tätigkeit des Archivio di Nuova Scrittura. „In den Jahren 1960 bis 1980 erlebte Italien den Wirtschaftsboom, die 1968er-Revolte und dann die dramatische Phase des Terrorismus. Mir schien, dass die Werke und Schriften der mit Text-Bild-Kombination arbeitenden Künstler all das auf eine bis dahin nicht gesehene und tiefgründige Weise spiegelten. Und zwar aus einer Perspektive, die abwich von der bürgerlichen und unternehmerischen, in der ich aufgewachsen war und in der ich lebte und arbeitete“, erzählt Paolo Della Grazia. Weit davon entfernt, ausschließlich eine gewöhnliche Sammlung zu sein, entwickelt sich das ANS in den 1980er und 1990er Jahren in Mailand zu einer Ideenwerkstatt und einem Raum (in der Via Orti 16) für Ausstellungen, Performances und Zusammentreffen. Zu dieser Tätigkeit liegt eine ausführliche, heute noch einsehbare Text- und Videodokumentation vor.
Die Verlagerung der Aufmerksamkeit von der Bedeutungsebene eines Textes zu seinen konstituierenden Elementen und die damit verbundene Hervorhebung der typografischen Dimension aus Silben, Worten, Phonemen und Buchstaben: Das geschieht in den Experimenten der Konkreten Poesie. Von großer Bedeutung für diese Bewegung sind die Positionen von Augusto und Haroldo de Campos sowie von Décio Pignatari, die in São Paulo in Brasilien zum Umfeld der Zeitschrift Noigandres gehörten. Das ANS präsentierte 1991 ihre erste europäische Überblicksausstellung und verfügt heute über eine der wichtigsten Sammlungen ihrer Werke und bibliographischen Produktion in Europa. Neben diesen Arbeiten präsentiert die Ausstellung Werke von Eugen Gomringer, Heinz Gappmayr, Gerhard Rühm und anderen. Außer zweidimensionalen Arbeiten sind in der Ausstellung auch Objekt-Werke zu sehen wie etwa ein Hologramm von Augusto de Campos oder The Push – ein holografisches Text-Objekt aus Plexiglas des Künstlers Alain Arias Misson. Die Arbeiten von Carlo Belloli, von denen zwei aus den 1940er Jahren sind, dienen als historische Brücke zwischen dem Futurismus und den „Worten in Freiheit“.
Das performative Element und Experimente mit dem Kino bzw. dem Video finden in Dan Grahams „Sonic Youth Pavillon” aus der Sammlung Museion ihren Platz.
Die Kunst von Irma Blank bezieht sich zwar auf Schrift, verzichtet aber paradoxerweise auf das Wort. Ihre Transkriptionen (1976) führen zu den Ausstellungsräumen im dritten Stock. Wie Blank nutzten auch andere Künstler das Wort in einem konzeptuellen Zusammenhang. In diesem Sinn widmet sich eine Werkgruppe der Ausstellung den Arbeiten von Terry Atkinson/ Michael Baldwin, Vincenzo Agnetti, Shusaku Arakawa, Joseph Beuys, Joseph Kosuth, Claudio Parmiggiani, Giulio Paolini und Franco Vaccari.
In den frühen 1960er Jahren setzten sich viele experimentelle Wort-Bild-Kombinationen kritisch mit wirtschaftlichen, politischen und sozialen Wandlungsprozessen in der westlichen Welt auseinander. Künstlerinnen und Künstler wie Eugenio Miccini, Lamberto Pignotti, Lucia Marcucci, Luciano Ori und Ketty La Rocca fordern die Massenmedien mit deren eigenen Instrumenten heraus. In diesem Spannungsfeld liegen die Ursprünge der so genannten Poesia visiva, die einen relevante Werkgruppe innerhalb der Sammlung des ANS bildet.
Das von Claudia Polizzi betreute Ausstellungsdesign reflektiert das Konzept der Intermedialität, das im Focus der Ausstellung steht
Für die Fluxus-Bewegung ist das verbale Element hingegen nur ein mögliches Mittel neben den traditionellen und multimedialen Ausdrucksformen. Der von Higgins geprägte Begriff „Intermedia“ unterstreicht, wie künstlerische Disziplinen in einer freien Zone auf der Grenzlinie unterschiedlicher Interventionsräume zeitgleich agieren können. Higgins’ Werk Poema d’aria / Luftsymphonie (1973-95) ist auf exemplarische Weise inter- oder multimedial: Es verbindet Räumlichkeit mit Text, Farbe, Sound und Licht zu einer Gesamterfahrung. Die Installation lädt Besucherinnen und Besucher dazu ein, mit diesem Umfeld sprechend, singend oder musizierend zu interagieren. Andere Fluxus-Werke in der Ausstellung greifen auf unterschiedliche Techniken und Medien zurück – von den Grafiken von Ken Friedman und Ben Vautier bis zu den konzeptuellen Musikstücken von Giuseppe Chiari, vom Mahogany Cello (1983) von Charlotte Moorman (1983) bis zur Installation /Assemblage „La Capra“ von Geoffrey Hendricks (1976-79).
Das performative Element und Experimente mit dem Kino bzw. dem Video finden in Dan Grahams „Sonic Youth Pavillon” aus der Sammlung Museion ihren Platz. Der vom US-amerikanischen Künstler anlässlich der Ausstellung der Band im Herbst 2009 im Museion entworfene Pavillon beherbergt einen Schwerpunkt mit Werken von ANS-Künstlerinnen und Künstler, die mit neuen Technologien arbeiten. Auf fünf Monitoren werden Künstlerfilme gezeigt, wie A proposito di Ezra Pound (1955) von Anna Bontempi, Martino Oberto und Gabriele Stocchi, La placenta azzurra (1968) von Franco Vaccari, Volerà nel ’70 (1965) vom Gruppo ’70 oder La grande occasione (1973) von Ugo la Pietra. Diese Auswahl ergänzen Videodokumente von Soundexperimenten aus unterschiedlichen Archiven wie dem der Quadriennale di Roma mit einer 1973 dokumentierten performativen Aktion von Ketty la Rocca oder dem Archiv von Rai Teche.
Dem 2019 völlig unerwartet verstorbenen Nanni Balestrini – einem der großen literarischen und künstlerischen Erneuerer in Italien – ist eine eigene Sektion im Erdgeschoss gewidmet. Die hier gezeigten Werke schlagen einen Bogen von den visuellen Texten der späten 1960er-Jahre zum digitalen Film Tristanoil, der 2012 auf der documenta 13 in Kassel präsentiert wurde. Die Abteilung „Per un capriccio” beherbergt schließlich eine Grafikmappe, die eine Art Synthese der langjährigen Aktivitäten des Sammlers Paolo Della Grazia darstellt.
Museion Bozen
Eröffnung: Freitag, 22. November 2019, 19 Uhr
Bis zum 07/06/2020