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Der steinerne Sinn...

...und die Dinge des Alltäglichen. Zur Lektüre von polnischer Lyrik. Ein Gastbeitrag von Christine Vescoli aus der Zeitschrift Kulturelemente #148.
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Foto: Salto.bz

Dass Polen, das Land, das so oft geteilt, aufgelöst und zertrümmert wurde, eine besonders reiche und lebendige Lyriktradition hat, hängt mit der Rolle einer Dichtung zusammen, die in ausgeprägtem Maß mit Existenz- und Wahrheitssuche zu tun hat. Davon leitet sich ihr moralischer Anspruch ab und auch ihre Neigung in einen Grund hinter den Dingen, der die Gefahr von Nichtigkeit oder Trivialität leichtfüßig abwehrt. 
Im deutschen Sprachraum ist die polnische Dichtung ab den 1960er Jahren v.a. durch den legendären Übersetzer und Vermittler Karl Dedecius bekannt und beliebt geworden, der Zbigniew Herbert, Czesław Miłosz, Wisława Szymborska oder Tadeusz Róewicz ins Deutsche übertragen hat.
Heute sind es u.a. Renate Schmidgall, Esther Kinsky, Bernhard Hartmann oder Olaf Kühl, die uns zeitgenössische Lyrik vermitteln, von der ich zu behaupten wage, es sei eine, die sich durch eine Schule des Schweigens auszeichnet, durch eine Form und Haltung der Diskretion, die in osteuropäischer Kultur wurzelt. Das soll anhand einiger Beispiele kurz beleuchtet sein.

 

„Es gibt so viel von Allem,/ dass das Nichts recht gut bedeckt bleibt“, lautet ein Vers in einem Gedicht von Wisława Anna Szymborska (1923 – 2012), der großen Dichterin, der 1996 der Nobelpreis zugesprochen wurde. Ein paar Zeilen weiter heißt es: „nicht ohne Reize ist diese schreckliche Welt, nicht ohne Morgen, für die es aufzuwachen lohnt.“ Dazwischen ist die Rede von tanzenden Paaren auf den Decks von Yachten, von einer Tankstelle auf dem Platz von Jericho, von Pearl Harbour und Maciejowice und Birkenwäldern und Zedernhainen, von Kindern und Icecreamwagen, von Möbelwagen am Auge des Löwen von Chäronea. So vieles also gibt es zu erzählen, während das Leben weiter geht und wieder zu erzählen ist; so vieles geschieht, auch wo nicht viel mehr geschieht als „ein grauer, ungewöhnlich warmer Dezember“ vor dem Fenster. „Ein paar Konzerte. Im Anwaltsclub in der Sławkowska-Straße gastierte eine ausgezeichnete junge Sängerin.“ (Adam Zagajewski, *1945)
Bei Tadeusz Dabrowski (*1974), Literaturstipendiat von Lana 2011, heißt es: „Die Autos fließen wie Wasserperlen an einer Schnur herab, dann / werden sie wie ins Nichts vom Geviert der Häuser und Höfe aufgesogen, / von den Zementgärten der Supermärkte. Das Wasser / spült gar nichts fort, aufdringlich trommelt es an die Schläfen.“
In einer nahezu unprätentiösen Erzählung der beschatteten und beschadeten, der unerschütterlich gewöhnlichen Dinge werden Einzelheiten als Attribute des Lebens aufgerufen, als zerstreute Momente, die unverrückbar einen Platz in der Realität gefunden haben.

Und die Moral – wohl keine.
Das, was wirklich ist, ist das schnell getrocknete Blut,
und immerzu Flüsse, Wolken.

Auf den tragischen Passstraßen
Reißt der Wind den Hut vom Kopf,
uns so ist`s nun mal  
ein Anblick zum Lachen.

(Wisława Anna Szymborska)


Was die zitierten Beispiele jedoch zeigen, ist nicht eine Wirklichkeit in der Inventur der Alltäglichkeit, die in der Aura des Ornaments gefeiert oder in der Nüchternheit einer herunter gewirtschafteten Welt statuiert würde. Es ist meist ein grübelndes, ein in sich gekehrtes und betrachtendes Ich, das selbst bei der sprühend witzigen, ironisch präzisen Szymborska allen Sinn für die Welträtsel innig beschwört und poetisch freisetzt. Darin ist auch das „recht gut bedeckte“ Nichts hinter den Dingen keinem Nihilismus ausgesetzt, selbst wo die Geschichte, die nichts als Zerfall und Zerstörung bedeutet, ihn nahelegen könnte. „Ich habe sie [meine Gedichte] aus dem Rest der übriggebliebenen, geretteten Worte gefügt, aus uninteressanten Worten, aus Worten vom großen Müllhaufen, vom großen Friedhof“, sagt Tadeusz Róewicz (1921 – 2014), der 1993 Gast der Bücherwürmer war. Tatsächlich holen seine lakonischen, nahezu unpoetischen Gedichte in einer Art Zeichensprache das Unsagbare der Erfahrung des Krieges ins Leben zurück: „nichts (...) sagt zum nichts / nichts.“ Diese modernen, zeitgenössischen Gedichte, die zu schreiben Róewicz trotz aller Illusionslosigkeit möglich war, verschwiegen die Vergangenheit und deren moralische Bürde für die Gegenwart nicht. Aber trotz des Wahrheitsbegriffs, der ideologisch zersetzt und zerstört worden war, trotz der zerfallenen Werte von Gut und Böse, dem Schönen und Hässlichen, waren sie imstande, andere Wirklichkeiten der Sprache zu erobern, indem sie einer Kultur, die sie vernichtend zerschlagen, Kürzel und Symbole entlehnen.
Wird das Nichts beschworen, sogar radikalisiert, ist es nicht das Letzte, das einem Leben und Schreiben bleibt. Róewicz positioniert sich dabei nicht unweit von Zbigniew Herbert (1924 – 1998), auch wenn dessen poetische Ergebnisse ganz andere waren. „Jenseits des Ichs des Künstlers erstreckt sich eine schwere, dunkle, aber reale Welt. Man darf nicht aufhören zu glauben, dass wir diese Welt in Worte fassen, ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen können.“
Herbert, der wie Róewicz dem polnischen Widerstand 1943 angehörte, schenkte seine poetische Aufmerksamkeit den Gegenständen des Alltäglichen, mit der er den Wunsch verband, in einer Zeit des Durcheinanders und des Zerfalls einer chaotischen Welt eine Ontologie aus den einfachen Dinge zu entwickeln, die sich gleich bleiben und nicht verändern. Dass er sich mit dem Festhalten an den Gegenständen, das sich gegen die Beschreibung von Träumen richtet, gegen die Gefahr von Utopien und Ideologien wandte, hielt ihn nicht von einem wachen Empfinden für die Transzendenz außerhalb des religiösen Bereichs ab. „Der Kiesel ist als Geschöpf / vollkommen. // sich selbst gleich / auf seine Grenzen bedacht // genau erfüllt // vom steinernen Sinn“.


Das Misstrauen und die Skepsis gegen jede verwaltete Wahrheit durch das alltäglich tätliche Wort oder durch das ideologisch verbrämte Denken zeichnet die polnische Lyrik über Generationen. Sie verdanken sich einer tief verwurzelten Erfahrung des Überfalls vom Hitler-Deutschland mit dem Entsetzen des Holocausts einerseits und der Durchsetzung des sowjetischen Kommunismus andererseits. „Erzählte der Tote dem Lebenden wie es wirklich ist / müsste er / schweigen“, schreibt noch der jüngere Dichter Tadeusz Dabrowski. Die Wirklichkeit liegt demnach wie die Wahrheit nicht im Wort und in der Sprache, sondern im Schweigen. Aber die Verse schlagen Haken und wie etwas wirklich ist, ist, wie es heißt, erzählbar.