Society | Sensibilisierung

„Gesellschaft noch nicht reif genug“

Gestern ist die Europäische Woche der psychischen Gesundheit gestartet. Mittlerweile seien psychische Krankheiten die größte gesundheitliche Gefahr für die Menschheit.
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Foto: Sinitta Leunen / Unsplash
Vom 22. bis 28. Mai 2023 findet die Europäische Woche der psychischen Gesundheit (EMHW) statt. Das Thema dieser vierten Ausgabe lautet „Psychisch gesunde Gemeinschaften“. Die vom Netzwerk Mental Health Europe (MHE) ausgerufene Woche soll in allen europäischen Ländern die Aufmerksamkeit der Menschen darauf lenken, dass die psychischen Krankheiten inzwischen die größte gesundheitliche Gefahr für die Menschheit darstellen.
Jeder dritte Mensch erkrankt im Lauf seines Lebens an einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung.
Viele Informationsstände zur psychischen Gesundheit sollen die Selbsthilfe aber auch die Bereitschaft, sich helfen zu lassen, anregen. Beispielhaft für das ganze Land war am Krankenhaus Bozen ein solcher Infopoint am 22.5.23 eingerichtet. Die Europäische Allianz gegen Depression trägt diese Initiativen mit. Sie ist ein europaweites Netzwerk, das in Südtirol vom Gesundheitsbetrieb koordiniert wird und geeignete Vorbeugung betreibt.
Jeder dritte Mensch erkrankt im Lauf seines Lebens an einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung. Nur zwei bis drei Prozent der Bevölkerung sind aber im Durchschnitt an beliebigen Stichtagen in psychiatrischer Behandlung. Dieser große Unterschied legt nahe, dass die meisten seelischen Leiden heilbar sein müssen.
 
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Europäische Woche der psychischen Gesundheit: Viele Informationsstände zur psychischen Gesundheit sollen die Selbsthilfe aber auch die Bereitschaft, sich helfen zu lassen, anregen. (Grafik: MHE)
 
Tatsächlich sei ein großer Teil psychischer Störungen vorübergehend. Betroffene beenden Psychotherapien oder medikamentöse Behandlungen erfolgreich, und versuchen, das Geschehene zu vergessen oder zu verdrängen. „Ein Kontakt mit der Psychiatrie oder mit Psychotherapeuten ist nicht etwas, was man gern herumerzählt oder in die eigene Lebensbeschreibung einfügt – für derartige Offenheit ist unsere Gesellschaft noch nicht reif genug“, erklärt Roger Pycha, Koordinator der European Alliance Against Depression (EAAD) Südtirol. „Gesprochen werden darf über gebrochene Beine, Rücken- und Kopfschmerzen. Angststörungen, Depressionen, Suchtkrankheiten, Zwänge aber verschweigt man tunlichst. Seelisch Kranke sind körperlich Kranken noch lange nicht gleichgestellt.“
Bestimmte psychische Störungen sind zwar heilbar, kehren jedoch im Lauf des Lebens wieder: die wiederkehrende Depression, die manisch-depressive Krankheit oder die schizoaffektive Störung können, auch wenn sie immer wieder ausheilen, ein Leben in normale und kranke Abschnitte zerstückeln. Und entsprechend starke Belastungen auch für Angehörige und Partner darstellen, sodass häufig zur Vorbeugung eine Dauerbehandlung mit Medikamenten notwendig wird. Diese Therapien können die Häufigkeit, Intensität und Dauer von Krankheitsphasen mindern, aber meistens nicht das Wiederauftreten der Störung vollständig verhindern. In solchen Fällen könne der Lebensvollzug zu einem schweren Ringen mit vielen Kompromissen werden.
Manche psychischen Erkrankungen werden chronisch, genauso wie manche körperlichen. Zuckerkrankheit, hoher Blutdruck, Arthrose stellen dauerhafte Beeinträchtigungen dar, mit denen man leben lernen muss. Ein Drittel aller Menschen, die an Schizophrenie erkranken, bleibt auf Dauer schwer krank und muss mehr oder minder intensiv rehabilitiert werden. Ein zweites Drittel aber heilt weitgehend bis vollständig aus.
„Die moderne Psychiatrie und klinische Psychologie haben großartige Behandlungsansätze für seelische Leiden entwickelt, die von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen werden. Auch psychiatrische Behandlung und Heilung muss sich meist versteckt und heimlich vollziehen. Für die Depression sind die Heilungsaussichten wissenschaftlich am besten belegt“, so Pycha. Das habe wohl auch damit zu tun, dass die Depression laut Weltgesundheitsorganisation auf unserem Globus die bedeutsamste aller Krankheiten geworden ist, was Schwere und Dauer der Beeinträchtigung angeht.
70 Prozent aller leichteren und mittelschweren Depressionen sind durch Psychotherapie erfolgreich behandelbar, 70 Prozent aller schwereren durch antidepressive Medikamente. Die häufig angewandte Kombination beider Verfahren verbessert die Heilungschancen. Auch Schlafentzug wirkt vorübergehend gut gegen Depressionen – in 50 Prozent der Fälle. Bei sogenannten Winterdepressionen hilft Lichttherapie bei 70 Prozent der Betroffenen. Mit Elektrokovulsionstherapie kann noch die Hälfte der Betroffenen, bei denen alle anderen Verfahren versagt haben, ihre schwere Depression überwinden.
„Allein schon solche nüchternen Zahlen und klaren Überlegungen machen Mut“, sagt der Koordinator der Europäischen Allianz gegen Depression Südtirol. Laut wissenschaftlichen Studien über die Wirksamkeit von antidepressiven Maßnahmen haben durchschnittlich 30 Prozent der untersuchten Personen auch auf Placebos, also auf Scheinmedikamente, die keinen Wirkstoff enthalten, eine Besserung ihrer Depression bemerkt. Damit werde klar, wie wichtig in der Psychiatrie und klinischen Psychologie geeigneter Umgang, einfühlsames Verhalten und Ausstrahlung von Vertrauen sind. „Allein schon der Glaube und das Vertrauen auf Heilung können einen sehr positiven Einfluss haben. Über weite Strecken heilt man sich als Betroffener tatsächlich selbst“, so Pycha.