Society | Gastbeitrag

Ein Feuer im Schnee

Der Senizid in einer neuen Gesellschaft.
Nordlicht
Foto: Mike Kaiser

Das Leben ist der Güter höchstes nicht!

Der Übel größtes aber ist die Schuld.

Friedrich Schiller

 

Es ist Nacht, im Schnee am Rande des Eises brennt ein Feuer. Davor sitzt ein alter Mann, den Rücken gegen den schneidenden Wind. Seine Familie, eine hungernde Horde vom Stamm der Amassalik Inuit, ist weitergezogen, den Robben hinterher. Bald wird das Feuer erloschen sein, dann kommt die große Kälte.

 

Von der Antike bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts berichten Ethnologen und Reiseschriftsteller von einem besonderen Brauch in verschiedenen Kulturen der Welt, die alten Menschen betreffend. Sie erzählen, wie diese irgendwann ausgesetzt, erdrosselt, erschlagen oder von Klippen gestürzt werden.

Die Altentötung (Senizid, Gerontozid) als wissenschaftlicher Begriff unterscheidet nicht zwischen aktiver oder passiver Tötung (etwa durch Entzug von Nahrung oder Betreuung) und war praktisch immer gekoppelt mit Hungersnot oder anderem Prekariat der eigenen Sippe. Der Alte als Last, als nutzloser Esser, als unproduktives Mitglied der Familie.

Diese Tötung ist kulturell überwunden, aber in der Gegenwart sehen wir eine zunehmende Altersdiskriminierung, der hochbetagte Mensch, ein wirtschaftlicher Klotz am Bein einer umgekehrten Alterspyramide. Senioren werden abgeschoben, isoliert in privaten oder öffentlichen Bunkern, der Horizont heißt Einsamkeit. Inwiefern diese Entwicklung auch Einfluss hat auf den Alterssuizid in unserem Land ist nicht erforscht, ob der Senizid diesbezüglich einer Begriffserweiterung bedarf, sollte angedacht werden.

 

Was geht uns das alles an? Was soll das hier bei uns, in einer modernen, aufgeklärten Gesellschaft? 

Es ist eine ungeklärte Gesellschaft. Anfang Mai dieses Jahres, gegen Ende der ersten großen Pandemiewelle, erläuterte uns ein Südtiroler Automechaniker mit politischem Migrationshintergrund das Phänomen des „zeitnahen“ Sterbens von älteren Covid-19-Kranken. Demnach wären – so der selbsternannte Demograf – „viele von ihnen 2-3 Monate später auch ohne Corona gestorben“. Das ist eine präzise Zeitangabe, das Virus also lediglich ein leicht vorauseilender Händchenhalter auf dem Weg ins Drüben; das Retten von „todesnahen“ Mitbürgern Ressourcenverschwendung.

Diese Aussage – plagiatorisch entlehnt bei Boris Palmer aus Tübingen – war immerhin mutig und das Echo in den Giftspalten der digitalen Flachwurzelportale nicht nur negativ; diese Follower zeigen, so ein Schneidiger steht nicht alleine da mit seiner Sicht der  Dinge.

Bei Palmer waren die Kritiken vernichtend, so dass wenigstens er sich entschuldigt hat: von menschenverachtend bis Nazivergleich klangen die Reaktionen. Was ist es also: nur Tabubruch oder Anstiftung zum Senizid?

 

Medizinisch ist die Aussage falsch. Komorbiditäten spielen kaum eine Rolle bei einer „vorverschobenen“ Sterblichkeit von alten Menschen durch Covid-19, so Walter Hasibeder, zukünftiger Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesie, Reanimation und Intensivmedizin vor kurzem gegenüber der APA. Es sei praktisch immer das Virus, das eine schwere Erkrankung mit Todesfolge auslöst. Hier bieten auch die von vielen Coronaskeptikern gerne zitierten Herztodesfälle keinen statistischen Seitenausgang: das Virus führt durch Schäden am Reizleitungssystem direkt zu tödlichen Rhythmusstörungen und über die Schädigung der Kranzgefäße ebenso direkt zu Infarkten. 

Als Reaktion auf die Äußerungen von Palmer erschien im Frühsommer ein Forschungsergebnis aus Glasgow, das für die Patienten mit den schwersten Vorerkrankungen mindestens 1-2 „verlorene“ Lebensjahre durch Covid-19 errechnet hat, im Schnitt sind es 9 Jahre. Also wohl doch ein passiver Senizid, wenn wir dieser Bevölkerungsgruppe eine medizinische Hilfe vorenthalten.

 

Ethisch nicht minder heikel ist ein Vorschlag aus den USA (American Institute for Economic Research; Massachusetts) zur Bewältigung der Krise, publiziert am vergangenen 4. Oktober und zur öffentlichen Unterzeichnung ins Netz gestellt. Diese „Great Barrington Declaration“ ist auf den ersten Blick faszinierend, sie enthält alle Perspektiven für eine ungebremste Wirtschaft und gleichzeitig den Schutz von sozial und gesundheitlich schwachen Bevölkerungsschichten.

Zentrale Idee ist der gezielte Schutz (Focused Protection)  von alten, gebrechlichen und unterprivilegierten Menschen, während parallel dazu das Virus ungehemmt durchlaufen soll, um möglichst schnell eine natürliche Herdenimmunität aufzubauen und den jüngeren Menschen mit minimalem Sterberisiko ein normales Leben zu ermöglichen. Dazu soll in Pflegeheimen Personal mit erworbener Immunität eingesetzt werden, um die Insassen zu schützen.

Diese Idee ist nicht neu (einige Staaten haben sie anfänglich probiert), sie ist nun aber „wissenschaftlich“ verbrämt und trifft gerade den Nerv einer gegenüber Restriktionen zunehmend überdrüssigen Gesellschaft; die Zustimmung an Stammtischen wird durchaus lauter. Dass in der Unterschriftenliste dieser Declaration viele Fakenamen kursieren ist mittlerweile bekannt; dass die verantwortliche Organisation dahinter weit im rechten politischen Spektrum und nicht zu knapp von Klimaleugnern finanziert wird, sei nur am Rande erwähnt.

10 Tage nach dieser Veröffentlichung hat sich – wie nicht anders zu erwarten – eine Gegenbewegung zu Wort gemeldet, die mit dem „John Snow Memorandum“ die amerikanische Deklaration zu entkräften versucht (The Lancet, 14. October 2020). Initiatoren sind 80 bedeutende Wissenschaftler aus der ganzen Welt, inzwischen haben sich ebenso international mehrere tausend Ärzte, Epidemiologen, Virologen, Politiker angeschlossen, ein definierter politischer Block dahinter ist bis jetzt nicht zu erkennen.

Die wesentlichen Gegenargumente:

  • „Eine natürliche (nicht impfgetriggerte) Herdenimmunität ist ein gefährlicher Trugschluß“. Es gibt bis jetzt keinen Hinweis, ob eine lang anhaltende Herdenimmunität für Covid-19 überhaupt möglich ist; niemand weiß, wie lange eine solche Immunität anhalten würde (bei eng verwandten Coronaviren ist sie relativ kurz). Bei repetitiven offenen Pandemiewellen wäre die Opferzahl unkalkulierbar. Die Frage der Reinfektion nach durchgemachter Krankheit ist ungeklärt.
  • Wie definiert man Risikogruppen für eine Focused Protection? Welches Alter, Prämorbidität, Lebensautonomie zählt? Wird das tabellarisch ermittelt oder per Selbsterklärung, wer darf/muß ins Exil, wer darf/muß weiterarbeiten? Wo liegt eigentlich das unternehmerisch/monetäre Kapital, vielleicht doch ein Stück weit in den deutlich  mitgefährdeten Intermediate-Jahrgängen? Neueste Untersuchungen zeigen, dass auch jüngere, gesunde Menschen ohne schweren Verlauf in 50% der Fälle verborgene Organschäden davontragen (Myokarditis, Herzrhythmusstörungen, Lungenschäden). Die bisher benützte Gleichung asymptomatischer Infizierter = Nichtkranker ist nicht mehr zu halten.
  • Wie will man die gefährdeten Bevölkerungsgruppen schützen? Die Great Barrington Declaration – a priori sehr allgemein gehalten – liefert keine Handlungsrichtlinien oder Strategien dazu. Es würde auf eine lange Kasernierungszeit oder private Isolation hinauslaufen, bis eine Herdenimmunität erreicht ist. Wie kommt man zu ausreichenden Zahlen von „immunisierten“ Pflegekräften und Ärzten in Spitälern und Pflegeheimen? Eine freiwillige, aktive Infizierung ohne Impfschutz ist wohl  indiskutabel.
  • Viele Experten sind davon überzeugt, dass man definierte Bevölkerungsgruppen auch im Exil  nicht dauerhaft schützen kann, wenn daneben das Virus hemmungslos durchläuft. Das haben nicht nur die Altersheime in Schweden gezeigt (wobei man das damalige Erfahrungsdefizit hier natürlich einrechnen muss), das zeigen aber auch die aktuellen Entwicklungen trotz aller forcierten Vorsichtsmaßnahmen.
  • Eine ungebremste, gewollte Durchseuchung fordert Opfer nicht nur in der alten Bevölkerung, sondern auch in jüngeren Schichten; Karl Lauterbach rechnet in einem solchen Fall in Deutschland mit mindestens 400.000 Toten.

Fasst man die Argumente für oder wider eine geförderte, natürliche Herdenimmunität ohne Impfung zusammen, dann ist dieses Experiment zugunsten von Wirtschaft, Bildungskontinuität, hypothetischer Wohlfahrt und Hedonismus ein riskantes Abenteuer mit unbekanntem Ausgang, für manche ist es ein Pakt mit dem Teufel.

 

Schon jetzt zahlen die Alten in unserer Gesellschaft die Zeche für diese Pandemie, zumindest in Hinblick auf gestohlene Lebenszeit; sollte allerdings eine der hier besprochenen Strategien jemals zur Anwendung kommen – der Enzianklauber oder die Great Barrington Declaration – dann kommt es für diese Menschen zur humanitären Katastrophe. Wir können uns inzwischen überlegen, wie eine zukünftige Geschichtsschreibung darüber urteilen würde:

Holocaust 2.0? Dazu fehlt die xenophobe Komponente

Genozid X.0? Es trifft ja nur die Nutzlosen

Euthanasie? Dazu fehlt das griechische eu

Wahr ist, es wäre nichts anderes als kalkulierter, passiver Senizid. 

Derweil haben wir berechtigte Angst vor einer Klimaerwärmung. Kommen wird vorerst eine große Kälte.