Fragen nach dem Wunder Leben
salto.bz: Sie haben für das Buchprojekt "Alles gut" viele Menschen befragt, die das 90. Lebensjahr überschritten haben. Worum ging es Ihnen in diesem aufwendigen Projekt?
Astrid Kofler: Ich mag einfach alte Menschen. Ich höre Ihnen gerne zu, es ist berührend mit ihnen zu sein, zu hören, an was sie sich gerne erinnern, was sie aussparen, wie sie sich erinnern, es ist schön, wenn sie mich an Zeiten teilhaben lassen, die wir selbst nicht erlebten. Im Alter ändert sich so viel, da liegt die Stärke nicht mehr im Tun, da liegt sie auch im Zulassen und Annehmen von Schwächen, da werden Menschen sehr aufrichtig und ehrlich, da sind sie authentisch. Viele von ihnen meinten – als ich sie um ein Gespräch bat – ich habe doch nichts zu erzählen. Aber alte Menschen haben sehr viel zu erzählen. Von alten Menschen lässt sich lernen. Vielleicht war eine meiner Intentionen auch die, diese meine Freude am Zuhören und Mitleben von Lebensgeschichten weiterzugeben. Eine andere war sicher der Wunsch, andere Menschen, Junge wie Alte, einzuladen, das Alter oder ihr Altsein genauso wertzuschätzen wie die Jugend oder die sogenannte Blütezeit eines Lebens; wobei ich eigentlich das Gefühl habe, dass alten Menschen heutzutage ohnehin viel mehr Respekt entgegengebracht wird als früher, dass jüngere ihnen heute jene Würde schenken, die sich jeder verdient. Altsein ist auch ein Lebensabschnitt, genauso wie jeder andere. Warum sollte man sich deshalb verstecken müssen. Früher hieß es immer, alt werden möchten alle, aber niemand will es sein. Ich hatte – nach den vielen Gesprächen das Gefühl – dass die Menschen das Altsein durchaus genießen, wenn sie nicht zu sehr von der Sorge gefangen sind, anderen vielleicht zur Last zu fallen. Die letzte Lebensphase ist eine genauso wertvolle Lebensphase. Wohl auch in diesem Sinne hat mich der Raetia-Verlag gefragt, ob ich nicht über alte Menschen ein Buch schreiben möchte. Ich tat nichts lieber als das.
Wie haben Sie die Menschen ausgewählt, die im Buch ihre Lebensgeschichte erzählen?
31 Porträts sind es, 35 Menschen kommen darin zu Wort, vier durfte ich als Paare interviewen. Das mögen auf den ersten Blick hin vielleicht viele sein, doch sind sie nur ein kleiner Ausschnitt von unzähligen „Wunder Leben“ – so nennen ich sie im Vorwort – sie sind nur ein kleiner Ausschnitt davon, wie Menschen um die 90 denken, woran sie sich erinnern, worüber sie reflektieren, wovor sie Angst haben oder auch nicht. Mir war wichtig, Menschen aus verschiedensten Berufsgruppen zu wählen, vom Rechtsanwalt bis zum Bergbauer, vom Carabiniere bis zur Yogalehrerin, ein Künstler, ein Skilehrer, eine 15fache Mutter. Es sind Bozner darunter, Personen aus dem Vinschgau, dem Pustertal, dem Unterland, dem Burggrafenamt, vom Ritten, aus Brixen, aus Ulten, aus St. Ulrich und Corvara, aus Stadt und Land.
Ich denke im Zeit-Schenken ergeben sich Gespräche, wie sie in einer üblichen Interview-Situation nicht entstehen könnten.
Nach welchem Muster gehen Sie bei der Befragung von Zeitzeugen vor? Gibt es überhaupt ein Muster?
Es gab einige Fragen, die ich allen stellte, so fragte ich, was das Schöne am Alter ist, was Schönheit bedeutet, was wohl nach dem Tod sein wird, wie es mit der Liebe ist im Alter, wie sich Beziehungen ändern, was sie sich noch wünschen. Ansonsten aber hörte ich einfach zu, die Fragen entstehen beim Zuhören, auch wenn fast alle – zumindest jene, die in Südtirol geboren wurden – die Schulzeit während des Faschismus und die Option erwähnten, waren ihre Lebenserfahrungen danach doch unterschiedlich.
Wie gelingt es Ihnen die Menschen zum Sprechen zu bringen? Indem Sie sich einfach Zeit nehmen und zuhören?
Zu viele schnelle Fragen darf man älteren Menschen nicht stellen. Übrigens glaube ich auch jüngeren nicht, man muss Ihnen Zeit geben, zu antworten, und ihnen nicht ungeduldig Antworten in den Mund legen, keine Suggestivfragen stellen, eigentlich gar nicht viel fragen, mehr plaudern. Ich denke im Zeit-Schenken ergeben sich Gespräche, wie sie in einer üblichen Interview-Situation nicht entstehen könnten. Unter Zuhören verstehe ich nicht nur einfach zuhören, sondern mit offenen Ohren da sein, nicht interpretieren, nicht deuten, einfach nur präsent sein und selbst möglichst still.
Ich bin überzeugt, dass man sich keiner Frage schämen soll, wenn sie die Würde des anderen nicht verletzt.
Wird Fragenstellen und Zuhören nicht irgendwann langweilig?
Ich durfte heuer eine Ausbildung zur Ehrenamtlichen der Caritas-Hospizbewegung besuchen. Viel sogenannte Praktikumserfahrung habe ich noch nicht, aber auch hier geht es eigentlich nur ums Zuhören, und manchmal auch nur darum, bei einem Sterbenskranken zu sitzen, damit die Angehörigen einfach einmal gehen können. Da sitzt man in einem Raum, es ist dämmrig, vielleicht tickt nur eine Uhr, da liegt in der Stille und im Schweigen so viel Tiefe, das ist nicht langweilig.
Und wenn alte Menschen sich mir öffnen, mir Dinge erzählen, die sie ihren Verwandten niemals erzählen würden, weil man Menschen, die man gut kennt, manches einfach nicht erzählen mag oder auch nicht erzählen kann, dann empfinde ich das als Geschenk.
Es gibt Menschen, die schämen sich anderen Menschen Fragen zu stellen, da sie glauben, dass Fragenstellen hätte was von Unwissenheit. Was stellen sie diesem Vorurteil entgegen?
Eine Frau in einem Rollstuhl hat mir vor vielen, vielen Jahren einmal gesagt, es verletzt sie viel mehr, wenn Leute auf der Straße wegschauen, als wie wenn sie sie geradeheraus fragen, warum sie denn im Rollstuhl sei. Das hat mich geprägt. Als mein Vater starb – das ist bald 22 Jahre her – rief mich plötzlich niemand mehr an, und damals läutete das Telefon noch sehr oft, da gab es kein WhatsApp. Viele meinten, sie wollten mich in diesem Moment der Trauer in Ruhe lassen und ja nicht stören. Wie gerne aber hätte ich geredet. Seitdem habe ich begonnen auch in Situationen Fragen zu stellen, in denen man – weil irgendwelche Erziehungsvorstellungen das vielleicht überliefert haben – man still sein sollte. Wenn jemand wirklich nicht antworten will, spüre ich es und hake nicht nach. Ich bin überzeugt, dass man sich keiner Frage schämen soll, wenn sie die Würde des anderen nicht verletzt. Und man muss sich keiner Frage schämen, wenn man sie aus ehrlichem Interesse stellt.
Der Titel Ihres Buches erinnert an Luis Trenkers Buch "Alles gut gegangen". Haben Sie Ihren Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern auch unbequeme Fragen gestellt, denen Trenker beispielsweise gerne auswich?
Vielleicht waren einige unbequeme Fragen dabei, das kann ich nicht beantworten, ich glaube aber nicht, man spürt bald, wie weit man gehen darf, mit manchen habe ich über die Hochzeitsnacht geplaudert, oder besser: Ich habe versucht Fährten so zu legen, dass sie selbst darauf kommen konnten, wenn sie wollten. Bei anderen nicht, weil ich spürte, dass sie das zu persönlich gefunden hätten. Es waren tatsächlich mehr Gespräche, keine Interviews zu brisanten Themen. Ich habe in den 30 Jahren, die ich Journalistin bin, nur zwei Jahre im sogenannten Tagessjournalismus gearbeitet, ich bin neugierig, aber nicht Fakten sind es, die ich aufdecken möchte, und kurze Berichte gestalten oder Notizen schreiben kann ich einfach nicht. Ich wünsche mir Menschen zu begegnen.
Fragen heißt ja auch Staunen können. Sich überraschen lassen. Interesse am Gegenüber haben. Nicht alles schon wissen.
Der bekannte Pädagoge Janusz Korczak – er starb 1942 im Vernichtungslager in Treblinka – stellte in seiner Arbeit mit Kindern stets „Die Frage“ ins Zentrum seiner Arbeit. Ist Fragenstellen etwas Kindliches?
Wir waren einmal – da war mein ältester Sohn noch ziemlich klein, auf Besuch bei einem sehr ehrenwerten Herrn. Der erzählte und erzählte und erzählte eigentlich gar nichts. Da hüpfte mein Sohn ihm plötzlich auf den Schoss und fragte ungeniert, „warum erzählst du so viel Käse?“ Wir Eltern wurden blass, da schaute der Herr meinen Sohn ernst an und meinte, „du hast Recht, ich rede Käse“. Und plötzlich führten wir ein wirklich wunderschönes, sehr erhliches Gespräch. Wenn Fragen kindlich ist, dann sollten wir uns – auch im Bezug auf das Fragen – so viel Kind wie möglich ins Nicht-Kindliche-Leben mitnehmen. Fragen heißt ja auch Staunen können. Sich überraschen lassen. Interesse am Gegenüber haben. Nicht alles schon wissen. Demütig sein. Fragen ist eine Tugend – natürlich „erwachsen“ formuliert.
Welche Fragen stellen Sie sich selbst? Insbesondere an Weihnachten und zum Jahreswechsel?
In dieser Zeit stelle ich mir selbst möglichst keine Fragen. Da genieße ich die Stille. Da versuche ich mir selbst zuzuhören. Ich denke mir oft, dass die Bäume und viele Tiere sich in dieser Zeit zurückziehen dürfen, schlafen, um neu zu erwachen. Nach dem Christtag gehe ich gerne viel alleine spazieren. Zu Sylvester frage ich mich nur, was gut war. Was auch an manchem vermeintlich Schlechtem gut war. Von dem, was wird, lass ich mich überraschen.
Salto in Zusammenarbeit mit Edition Raetia. In den kommenden Wochen folgen Gesprächs-Ausschnitte aus dem Buch "Alles gut"