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Foto: upi
Politics | Wahlrecht

Ein italienischer Dauerbrenner

Das Verfassungsgericht stellt am heutigen Dienstag die Weichen für zukünftige Wahlen
 
Mattarellum, Consultellum, Porcellum, Italicum... Wenn es ums Wahlrecht geht, scheint die Phantasie der italienischen Parteien unbegrenzt. Doch damit ist sie freilich auch schon ausgeschöpft. Was in anderen Ländern als unantastbar gilt, bleibt in Italien ein Dauerthema. Die Politik der krisengeplagten Halbinsel ist reich an Anomalien und das Wahlrecht steht in dieser Liste ganz oben.
Weil die zerstrittenen Parteien aus der selbstverschuldeten Sackgasse nicht herauskommen, soll nun das Verfassungsgericht für die sechste Änderung in wenigen Jahren sorgen.  Es soll am heutigen 24. Jänner über die Anfechtungen des Italicum entscheiden, das Matteo Renzi im Vorjahr mit einem unsinnigen Vertrauensvotum durchgedrückt hatte. Auch das ein italienisches Unikum: Ein gültiges Wahlrecht wird abgeschafft, obwohl es nie angewandt wurde.
Dass die Verfassungsrichter Änderungen empfehlen, gilt als sicher. Die Stichwahl könnte abgeschafft, der Mehrheitsbonus reduziert, die gleichzeitige Bewerbung von Kandidaten in mehreren Wahlkreisen untersagt werden. Vor allem muss das Wahlrecht von Kammer und Senat harmonisiert werden, um unterschiedliche Mehrheiten in beiden Kammern des römischen Parlaments zu vermeiden.
Es sind besonders die lautstarken Populisten wie Beppe Grillo und Matteo Salvini, die nervös in den Startlöchern scharren. Und die täglich Druck auf das Gericht ausüben, sich nicht mit Empfehlungen ans Parlament zu begnügen, sondern mit einem klaren Urteil Fakten zu schaffen, die sofortige Neuwahlen ermöglichen.
 

Salvini und Grillo bestehen auf sofortigen Wahlen

 
Salvini und Grillo gebärden sich ungeniert so, als könnten sie aus solchen Wahlen als Sieger hervorgehen. Der Lega-Chef bei einer Kundgebung vor dem Verfassungsgericht : "In questo momento drammatico di sofferenza bisogna stare insieme e essere veloci. Sono qui per chiedere alla Consulta di non perdere tempo, di fare presto e consegnare martedì all'Italia una decisione chiara per andare a votare subito in primavera con qualsiasi legge elettorale". 
Auch die Fünfsterne-Bewegung fordert vom Gericht ein „sofort anwendbares“ Urteil: „PD, Forza Italia e compagnia vogliono rinviare il voto, giungere a fine legislatura e creare il sistema elettorale ritagliato su misura per impedirci di andare al governo: l'Anticinquestellum. Sono disposti a fare qualsiasi cosa per ritardare il libero voto dei cittadini.“ 
Der Partito Democratico befürwortet eine Rückkehr zum Mattarellum, einer  Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht, Berlusconi ein Proporzsystem mit Vorzugsstimmen. Beide haben es mit Neuwahlen nicht besonders eilig und bestehen auf einer Parlamentsdebatte zum Thema. Forza Italia-Fraktionsprecher  Renato Brunetta: "Ci vuole un serio lavoro parlamentare". Das  freilich hat es - wenn überhaupt - zuletzt unter Prodi gegeben.
 

Keine Partei kommt auf 30 Prozent

 
Die Eile der Fünsterne-Bewegung und der Lega erscheint noch rätselhafter angesichts der aktuellen Umfragewerte:
PD  28,4 Prozent, 
M5S 26,8  
Lega Nord 13,5
und Forza Italia 13,4 Prozent.
Keine dieser Parteien hat auch nur eine hauchdünne Chance auf einen Wahlsieg . Vor allem dann, wenn sie - wie Grillos Bewegung - jede Allianz kategorisch ablehnt.
Eine Parlamentsdebatte gilt als unausweichlich - der Dauerstreit könnte sich über Monate hinziehen und zum wiederholten Mal die beschämende Unfähigkeit der italienischen Parteien beweisen, gemeinsame Spielregeln der Demokratie festzulegen.
Jede Partei will ein Wahlrecht zum eigenen Vorteil durchsetzen.
Eine normale Beendigung der fünfjährigen Legislaturperiode gehört in Rom mittlerweile zur Unmöglichkeit.
Unbestritten bleibt nur die Diagnose: fibrillazione permanente.
In jedem anderen europäischen Land würden Schneekatastrophen und dauernde Erdbeben die Parteien zu nationaler Solidarität veranlassen, in Italien scheinen sie das Dauergezänk noch zu fördern. Zunächst wird ihnen freilich eine Wartezeit verordnet. Denn die Parlamentsdebatte kann erst dann beschlossen werden, wenn das Verfassungsgericht seine Urteilsbegründung hinterlegt. Das könnte etliche Wochen dauern und die Nervosität der Parteien steigern. Gegen ihren desolaten Zustand gibt es offenbar kein wirksames Rezept.  Unbestritten bleibt nur die Diagnose: fibrillazione permanente.