Economy | Gastbeitrag

Arbeiten schützt nicht vor Armut

Verdienen Südtirols Arbeitnehmer zu wenig? Die Wahrheit über Arbeitnehmer-Löhne, Lebenshaltungskosten und Wohlstandsverteilung in Südtirol.
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Foto: upi
Breitgefächerter Wohlstand und soziale Ausgewogenheit sind das Ergebnis von Erwerbsbeteiligung, Lohnniveau und Lohnentwicklung, der Verteilung von Vermögen und Einkommen sowie der Wirksamkeit des Wohlfahrtsstaates. Im Endergebnis sind die verfügbaren Einkommen der Haushalte in Südtirol ausgewogener verteilt als in Italien und den USA, aber weniger ausgewogen als in den deutschsprachigen Nachbarländer Schweiz, Österreich und Deutschland. Die Situation ist also nicht schlecht, es ist aber noch Luft nach oben, wenn man im europäischen Spitzenfeld mitmischen will.
 

Arbeitnehmerlöhne in Südtirol

 
In Südtirol gibt es 210.000 Arbeitnehmer und somit auch 210.000 Lohnsituationen. Allgemein kann man festhalten, dass die Löhne Ausdruck sind von Arbeitsausmaß (Vollzeit/Teilzeit) Berufsbild, Wirtschaftssektor, Qualifikation, Dienstalter. Die mediane Entlohnung eines Vollzeit-Arbeitnehmers in der Privatwirtschaft beträgt 28.401 € brutto pro Jahr (ASTAT, 2015). Die Unterschiede in der Einkommensverteilung sind dennoch markant: Während es die „Oberen 10%“ der Einkommensbezieher in Vollzeit im Schnitt auf 70.966 € brutto bringen, verdienen die „Unteren 10%“ nur 16.417 € brutto.
 
 
Während es die „Oberen 10%“ der Einkommensbezieher in Vollzeit im Schnitt auf 70.966 € brutto bringen, verdienen die „Unteren 10%“ nur 16.417 € brutto.
Was sagt der nationale Vergleich? Immer mit Bezug auf eine Vollzeitarbeitskraft in der Privatwirtschaft verdient ein Arbeitnehmer in Südtirol 6 bis 7% mehr als im nationalen Schnitt. Sehr wohl ist hier zu berücksichtigen, dass die Beschäftigungsstruktur im Vergleich zwischen Südtirol und Italien verschieden ist, und zwar mit Blick auf die Zusammensetzung nach Sektor, Qualifikation, Alter, Geschlecht und Betriebsgröße. Dass Südtirol bei den Löhnen jedenfalls nicht in der europäischen Champions-League spielt, das zeigt der Blick nach Bayern oder in die Schweiz.
 

Lebenshaltungskosten

 
Wie das AFI in einer Studie nachgewiesen hat, liegen die Lebenshaltungskosten in Südtirol selbst in einer sehr konservativen Berechnung 20% über dem nationalen Niveau. Besonders zu Buche schlagen die hohen Mieten. Nicht selten verschlingen diese bis zu ein Drittel des verfügbaren Einkommens.
 
Zudem steigt das Differential im Preisniveau tendenziell an, zumal die Inflationsrate in den letzten Jahren in Bozen recht konstant rund einen halben Prozentpunkt über dem nationalen Schnitt lag.
 

Hohe Erwerbsbeteiligung als Rettung

 
Wie kann es also sein, dass bei Löhnen, die im Schnitt nur 6 bis 7% über dem nationalen Level liegen, die Südtiroler Haushalte doch noch auf ein durchschnittlich deutlich höheres verfügbares Haushaltseinkommen zurückgreifen können? Das liegt an der hohen Erwerbsbeteiligung. Will heißen: Während auf gesamtstaatlicher Ebene z.B. in einer vierköpfigen Familie mit erwachsenen Kindern nur drei Personen arbeiten, sind es in Südtirol alle vier. Das spült mehr Geld in die Haushaltskasse. So erklärt sich, warum das pro Familie verfügbare Haushaltseinkommen in Südtirol rund ein Drittel über dem nationalen Niveau liegt, obwohl die Löhne nur 6 bis 7% darüber liegen.
 

Vom Aufschwung nur gestreift

 
Dass Südtirols Arbeitnehmer nicht von den Früchten des Aufschwungs profitieren, zeigen sowohl die Zahlen des ASTAT als auch die AFI-Stimmungsindikatoren.
Das ASTAT rechnet vor, dass die Reallöhne von Vollzeit-Arbeitnehmern in der Privatwirtschaft im Zeitraum 2010-2015 sogar gesunken sind, und zwar um -0,3%. Quer durch die Privatwirtschaft hat die Lohndynamik also nicht einmal mit der Inflation Schritt gehalten. Dabei ist der Effekt sinkender Reallöhne noch unterschätzt, zumal im Gleichzug im selben Zeitraum Struktureffekte stattgefunden haben, die eigentlich die Lohndynamik künstlich nach oben treiben müssten, beispielsweise die Alterung der Belegschaften. Bereinigt man die Statistik durch diese Struktureffekte, wäre der Rückgang in der Größenordnung von -4% einzuordnen.
 
 
Dass Südtirol bei den Löhnen jedenfalls nicht in der europäischen Champions-League spielt, das zeigt der Blick nach Bayern oder in die Schweiz.
Das AFI-Barometer fühlt alle drei Monate den Arbeitnehmern in Südtirol auf den Zahn. Während die Stimmungsindikatoren für Südtirols Wirtschaft und Arbeitsmarkt seit vier Jahren nach oben tendieren, stagnieren jene, welche die eigene finanzielle Situation abbilden: die Fähigkeit, mit dem Lohn über die Runden zu kommen, die finanzielle Lage der eigenen Familie, die Sparmöglichkeiten. Trotzdem profitieren die Südtiroler Arbeitnehmer momentan vom wirtschaftlichen Aufschwung in Form von mehr Arbeitsplätzen und von einer allgemein besseren konjunkturellen Lage.
 

Südtiroler Transfersystem verhindert Schlimmeres

 
Auch im reichen Südtirol gibt es Personen, die mit der Mittelschicht nicht mithalten. Das ASTAT spricht von 16,6% der Südtiroler Haushalte, die armutsgefährdet sind. Das bedeutet, dass das Einkommen dieser Haushalte 60% des Median-Äquivalenzeinkommens in Südtirol nicht erreicht. Arbeiten alleine schützt vor Armut nicht. Das AFI hat jüngst errechnet, dass die Zahl der Erwerbshaushalte, die von ihrem eigenen Lohn nicht würdevoll leben können, ebenfalls bei knapp 16% liegt. Dass diese Zahl nicht höher ist, ist dem Wohlfahrtssystem zu verdanken.
Ohne die Transferleistungen der öffentlichen Hand wäre der Anteil der in relativer Armut lebenden Haushalte laut ASTAT nicht 16,6%, sondern 24,7% aller Haushalte.
 

Wo nachbessern?

 
Mit den Lebenshaltungskosten in Südtirol lebt es sich schlecht, wenn Löhne nur nach den nationalen Kollektivverträgen gezahlt werden. Mögen auch Lohnaufbesserungen in der Praxis häufig gegeben oder in vielen Fällen individuell ausgehandelt sein, so verbessert das nicht die Situation der jeweiligen Berufskategorie: Die sogenannte zweite kollektivvertragliche Verhandlungsebene ist in Südtirol immer noch schwach entwickelt. Die meisten Landeszusatzverträge treten seit der Krise 2009 auf der Stelle, was den wirtschaftlichen Teil anbelangt. Von den Top100-Unternehmen haben nur 45 ein Betriebsabkommen mit den Gewerkschaften signiert.
 
 
Schon rein präventiv müsste Südtirols Landesregierung jedes Interesse daran haben, dass die Lohndynamik in der Privatwirtschaft wieder anspringt.
Es stimmt zwar, dass es vielfach sogenannte „interne Betriebsabkommen“ gibt, gleichzeitig signalisiert dies aber, dass die Sozialpartnerschaft in vielen Fällen selbst in den größeren Unternehmen nicht wirklich gelebt wird. Gerade in Zeiten des verstärkten Fachkräftemangels müsste Südtirol seine Attraktivität als Arbeitsstandort durch bessere Löhne steigern. Deutschland macht es vor: Nach dem Metallsektor wurde kürzlich auch im öffentlichen Dienst die Tarifrunde mit einer deutlichen Lohnerhöhung abgeschlossen. Das macht Deutschland nicht nur für Bauingenieure aus dem Ausland, sondern auch für Ärzte, Pflegekräfte, Erzieherinnen und Kindergärtnerinnen noch attraktiver.
 

Wirtschafts- und sozialpolitische Rückschlüsse

 
Seit der Krise 2009 geht Lohnzurückhaltung in der Privatwirtschaft einher mit steigenden Kosten des Südtiroler Sozialetats. Die Frage ist, wie lange die übertriebene Lohnzurückhaltung der Arbeitgeberseite dem Land guttut. Ein stückweit wird das Land seine „korrigierende Funktion“ mit steigenden Transferleistungen noch ausüben können. Angenommen aber, der Landeshaushalt 2019 würde arge Einbrüche erfahren und Kürzungen des Sozialbudgets notwendig machen, dann könnte dessen korrigierende Wirkung zur Wiederherstellung der sozialen Gerechtigkeit nicht mehr im notwendigen Maß stattfinden. Schon rein präventiv müsste Südtirols Landesregierung jedes Interesse daran haben, dass die Lohndynamik in der Privatwirtschaft wieder anspringt.