„Kein Freund von Diktaturen“
Wilhelm Alexander Loew wurde am 9. Juni 1873 in Wien Speising geboren. Er studierte Jurisprudenz an der Universität Wien. Von 1903 bis 1908 war er Konzipient der Finanzprokuratur in der Kanzlei seines Vaters. Um 1908 heiratete Wilhelm Loew die Tänzerin Maria Siddy aus Ungarn. 1914 scheint seine eigene Anwaltskanzlei unter der Adresse Goldschmiedgasse 9 im Wiener Adressbuch auf. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete er sich freiwillig zum österreichisch- ungarischen Heer und wurde an der Südfront im Trentino stationiert. Als nach Inkrafttreten des Waffenstillstands zwischen Österreich- Ungarn und Italien am 4. November 1918 öserreichische Soldaten nicht mehr heimkehren konnten, da sie nicht rechtzeitig informiert worden waren, gerieten viele von ihnen in italienische Gefangenschaft. Loew flüchtete in die kleine Trentiner Ortschaft Sopramonte, wo er bei der Familie des Arztes Cadonna Schutz fand.
Cadonnas Tochter Beatrice, deren Bruder Giuseppe ebenfalls Rechtsanwalt war, begann sich für den österreichischen Offizier zu interessieren. Wilhelm und Beatrice heirateten und ließen sich im März 1919 in Kaltern nieder, wo Loew wenig später die Kanzlei des Advokaten August Mayrhauser übernahm und unter der Telefonnummer „18“ erreichbar war.
Loew beantragte die italienische Staatsbürgerschaft, doch die Verleihung zögerte sich bis 1924 hinaus, da er im Ersten Weltkrieg auf der gegnerischen Seite gekämpft hatte. Bis dahin arbeitete er für Rechtsanwalt Gaetano Boscarolli, der ihm auch ohne italienische Staatsbürgerschaft zu juristischer Arbeit verhalf. Vermutlich waren die Unsicherheiten über seine berufliche Zukunft in Italien der Grund dafür, weshalb Loew seine Kanzlei in Wien bis 1925 weiterführte. Erst am 5. Dezember 1924 wurde er in das Berufsverzeichnis der Rechtsanwälte der Provinz Bozen eingetragen.
1925 kam Guido und 1928 Bruno zur Welt. Damals verlegte Loew seine Rechtsanwaltskanzlei nach Bozen, zuerst in die Museumsstraße 21, dann an den Waltherplatz und ab 1932 an den Obstmarkt 7. Die Familie genoss hohes gesellschaftliches Ansehen, auch wenn es in den 1930er-Jahren nicht einfach war, als Rechtsanwalt Aufträge zu erhalten und Beatrice als Lehrerin arbeiten musste.
Loew war eine elegante Erscheinung und hatte einen sehr sanftmütigen Charakter, erinnern sich Brigitte Seyr und Eugenia Antoniolli.
Überfall der SS
Während des Krieges wurden Beatrice, Guido und Bruno nach Cavalese evakuiert. Loew blieb in Bozen, um seiner Arbeit nachgehen zu können. 1944 scheint der Corso IX Maggio 42, die heutige Freiheitsstraße, als Wohnadresse der Familie in Bozen auf. Einen Raum seiner Kanzlei stellte Loew damals einem Mitarbeiter der deutschen Eisenbahn namens Fischer zur Verfügung. Dieser war ein Spitzel der Gestapo, der Loew verriet und der SS auslieferte. Aus seiner Gefangenschaft im Gefängnis von Bozen und im Bozner Konzentrationslager konnte Loew seiner Frau Briefe zukommen lassen, in denen er den Überfall der SS in seiner Wohnung am 16. Februar 1944 genau schildert.
"An jenem Abend drangen gegen 21 Uhr ein SS-Mann höheren, ein SS-Mann niedrigen Ranges und ein Polizeiangestellter in Zivil, darunter Paul Knapp, in seine Wohnung. Sie fragten, ob Loew Gold oder Waffen zu Hause habe. „Ich verneinte der Wahrheit entsprechend das eine wie das andere. Etwas später fanden sie in einem Karton auf dem Schreibtisch einige (5 oder 6) Patronen. Da erklärte ich, dass ich sie einmal in einer Depression nach großen finanziellen Verlusten meiner Kanzlei für einen Revolver gekauft hatte, dass ich diesen jedoch weggeworfen hatte, nachdem das damalige Problem dank einer großzügigen Hilfe von B. [Beppo, Beatrices Bruder, d. Verf.] gelöst werden konnte. Die Patronen müssen aber von damals zurückgeblieben sein, ohne dass ich mir dieser Tatsache bewusst war.
Dann brachten sie mich ins Gefängnis. Während der Autofahrt schlugen sie mich und fügten mir im Bereich des linken Auges Wunden zu, das stark zu bluten begann. Es war wirklich ein Wunder, dass ich damals nicht das Auge verlor. Am 9. des Monats wurde ich zwei Stunden lang im Korpskommando verhört, wo sich alles nur mehr um die jüdische Frage drehte und wo die Waffe nur eine bedeutungslose Anmerkung blieb.
Natürlich sagte ich dasselbe wie beim ersten Mal. Bei diesem letzten Anlass warfen sie mir sogar vor, dass ich kein Freund von Diktaturen sei, dass ich gesagt hätte, dass Bolschewismus und Nazismus ähnliche Ziele hätten, und schließlich, dass ich Fragen in Bezug auf die Gerüchte über den Obersten Kommissar gestellt hätte. All dies muss der Inspektor Fischer von der deutschen Eisenbahn verraten haben, der sein Büro in meiner Kanzlei hatte. Er hat auch denunziert, dass ich ihn eingeladen hätte, einen Abend gemeinsam zu verbringen, um über die Politik zu diskutieren."
Enteigung und Gefängnis
Im Bozner Gefängnis wurden am 16. Februar 1944 Loews blutende Verletzungen am linken Auge und an der Nase vermerkt, nicht ohne den Zusatz, dass er wohlhabend sei. Wenige Tage nach seiner Festnahme tauchte in der Wohnung der Familie Loew-Cadonna in Cavalese eine Gruppe von Uniformierten, darunter der Kommandeur der Sicherheitspolizei Rudolf Thyrolf, auf, um zahlreiche Wertgegenstände, Schuhe, Lebensmittel, Geld und ein Radio davonzutragen. Aus der Wohnung in Bozen wurden ebenfalls zahlreiche Wertsachen entwendet.
Loew teilte seiner Frau mit, dass ihm beim Verhör am 9. März 1944 wörtlich gesagt worden sei: „Wir wollen endlich ein für alle Mal die jüdische Frage lösen.“ Seit diesem Zeitpunkt habe er nichts mehr über seinen Fall gehört. Er wollte versuchen, mithilfe eines Anwalts seine Freiheit zurückzuerlangen, und befürchtete, nach Deutschland verschleppt zu werden.
Bis zum 1. Juni 1944 blieb Loew im Bozner Gefängnis eingekerkert. Unter den Gefangenen, mit denen er sich die Zelle teilte, war der Alpinist Tita Piaz oder „Teufel der Dolomiten“, wie er auch genannt wurde, ein politisch engagierter Bergführer aus dem Fassatal. Piaz berichtet, dass Loew mit ihm in der Zelle 59 war, in welcher der Aufenthalt erträglicher als in anderen Zellen war.
Piaz schildert die katastrophalen Zustände in der verdunkelten Zelle mit vier zerrissenen Strohsäcken als Schlafunterlage für sieben Häftlinge, mit vor Dreck verkrusteten und zerfransten Decken, mit Blechnäpfen, die fürs spärliche Essen genauso wie fürs Waschen genutzt werden mussten, und mit Wanzen und Kakerlaken, die in der Zelle im Minutentakt aus dem Weg geräumt werden mussten.
Piaz und Loew teilten sich eine Strohmatte und sprachen oft über ihre Hoffnungen und Ängste. Anfangs war Loew keineswegs besorgt, er war sich fast sicher, dass er wieder freikommen würde, so Piaz. Seine Vorfahren waren getaufte Juden und sein Vater immerhin Rechtsbeistand des Papstes gewesen.
Tod in Ausschwitz
Loew war in der ersten Gruppe von 20 Häftlingen im Bozner Gefängnis, die am 1. Juni 1944 in das neu gebaute Konzentrationslager überstellt wurden, berichtet Piaz. Wie im „Arbeitserziehungslager“ Reichenau waren auch im Konzentrtionslager in Bozen rund 30 NS-Gefolgsleute zur Bewachung der Gefangenen abgestellt. Diese waren in Baracken untergebracht und mussten in der Umgebung Zwangsarbeit leisten, bevor sie in andere Konzentrations- oder Vernichtungslager verschleppt wurden.
Das Wachpersonal im Konzentrationslager in Bozen zeichnete sich durch eine besonders brutale Gewalt aus. Der Tischler Josef Mittermaier aus Deutschnofen, der im Jänner 1944 für den SD rekrutiert worden war und im Juni 1944 im Konzentrationslager in Bozen eingesetzt wurde, war aufgrund seiner brutalen Misshandlungen gefürchtet.
Überlebende Häftlinge des Konzentrationslagers in Bozen, die nach Kriegsende im Zuge des Prozesses gegen Mittermaier als Zeugen aussagten, bestätigten, dass dieser es vor allem auf den Rechtsanwalt Loew abgesehen hatte. Täglich schlug ihn Mittermaier morgens mit einem schweren Schlüssel auf den Kopf. Er trat und ohrfeigte Loew, hetzte den Lagerhund auf ihn und traktierte ihn mit Faustschlägen und Peitschenhieben, bis er bewusstlos zusammenbrach.
Mehrere Male drohte Mittermaier, ihn umzubringen, indem er ihn zwang, seinen Kopf vor das Rad eines Lastkraftwagens zu legen, und dessen Motor in Gang setzte. Zu den bestialischen Demütigungen Mittermaiers gehörte es auch, dass er Loew zwang, seine Exkremente mit einem Löffel zu schlucken oder minutenlang mit offenem Mund zu stehen, während Mittermaier ihm in den Mund spuckte. Loew, der es gewagt hatte, Mittermaier zu widersprechen, musste wiederholt auf Essensrationen verzichten, weil er durch die vielen Misshandlungen zu geschwächt war, um den Blechnapf zu halten, und es den anderen Häftlingen verboten wurde, ihm zu helfen. Mittermaier wurde am 27. November 1945 zu 24 Jahren Haft verurteilt.
Brot zu bekommen, wäre die Hauptsache, schrieb Loew am 14. September 1944 an Beatrice, „weil mein Magen das hiesige schwarze Militärbrot absolut nicht verträgt, sodass ich ganz ohne Brot bin. In der laufenden Woche habe ich gar nichts bekommen. – Selbstverständlich warte ich wie alle immer mit Begier und Heißhunger, da die hiesige Kost naturgemäß nicht genügen kann.“
Die 30-jährige Wachfrau Paula Plattner aus Klausen, die sich zum Wachdienst im Konzentrationslager Bozen freiwillig gemeldet hatte, und Albino Cologna aus Castelfondo im Nonstal, der die volksdeutschen Ukrainer Otto Sein und Mischa Seifert zu zahlreichen grausamen Gewalttaten und Morden anstachelte, zeigten sich als sadistische Bestien. Plattner ermunterte Vizekommandant SS-Hauptscharführer Hans Haage laut Zeugenaussagen immer wieder zu weiteren Quälereien wie „Kaltbaden“, Peitschenhiebe bis aufs Blut oder Schüsse auf die Beine der Häftlinge. Als Beatrice Loew-Cadonna mit Erlaubnis des SS-Kommandos in Bozen ein Desinfektionsmittel zur Behandlung der Wunden ihres Mannes in das Konzentrationslager bringen wollte, versetzte ihr Plattner einen Stoß, dass sie zu Boden fiel. Plattner leerte den Inhalt aus und zerschmetterte den Behälter.
Erkrankt, extrem abgemagert und geschwächt, sodass er sich kaum noch auf den Füßen halten konnte, wurde Loew am 24. Oktober 1944 in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Dort erhielt er laut Liliana Picciotto die Erkennungsnummer 199872. Picciotto zufolge wurde Loew nach dem 9. November 1944 an einem unbekannten Ort ermordet. Laut Dario Venegoni starb er am 9. November 1944.
Eine berührende und
Eine berührende und erschreckende Geschichte die auch jene lesen sollten die heute gedankenlos dem radikalen Tonfall der Meute folgen.