Zwischen den Welten

Während in Italien bald 900.000 ausländische Jugendliche die Schulen besuchen, hatten im Schuljahr 2018/19 in Südtirol 9.814 Schüler eine ausländische Staatsangehörigkeit (12 % der Schülerinnen insgesamt). Von diesen war die Mehrheit (5.531) in Südtirol oder im restlichen Italien (722) geboren. Ende 2018 hatten 7.200 Ausländer ihren Wohnsitz in Südtirol, die im Inland geboren sind (ASTAT 2019). Eine genaue Erfassung der zur zweiten Generation der Migranten zählenden Personen gibt es nicht, weil der allergrößte Teil dieser Jugendlichen mit der Volljährigkeit auch die Staatsbürgerschaft erhält.
Wie wird sich diese Generation in die Südtiroler Gesellschaft einfügen? Um darüber Hypothesen anzustellen, kann man einen Blick auf Österreich und das Bundesland Tirol werfen, das in Sachen Migration gewissermaßen „eine Generation voraus“ ist. In allen österreichischen Bundesländern liegt der Anteil der Menschen mit niedriger Bildung unter dem der ersten Migrantengeneration. Bemerkenswert ist, dass der Bildungsaufstieg im Osten stärker ausfällt als im Westen Österreichs (Hetfleisch/Moser 2011, 136). In Tirol hatten 2010 45 %, in Vorarlberg 46 % der zweiten Generation höchstens den Pflichtschulabschluss. Nur 9 % dieser Generation haben in Tirol einen höheren Bildungsabschluss. Dazu die beiden wissenschaftlichen Mitarbeiter beim Zentrum für MigrantInnen ZEMIT in Tirol, Gerhard Hetfleisch und Andrea Moser: „Höchst irritierend ist das Ergebnis für die westlichen Bundesländer, darunter Tirol. Es verschränkt sich das generell geringe Bildungsniveau der Zugewanderten mit der schlechten Bildungsverwertung zu einem Amalgam der Benachteiligung, die im Kern Ausdruck von Diskriminierung ist. Es ist also festzuhalten, dass es entgegen der landläufigen Meinung nicht primär der Bildungsmangel ist, der zur Benachteiligung am Arbeitsmarkt führt, sondern die Bildungsverwertung.“ (Hetfleisch/Moser 2011, 141). Mit Bildungsverwertung ist gemeint, ob und in welchem Ausmaß eine bildungsadäquate Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt gefunden wird. Unter den Migranten ist ein deutlich höherer Anteil für den Arbeitsplatz überqualifiziert oder gar nicht erwerbstätig, somit nicht in der Lage, die eigene Qualifikation zu verwerten.
In Italien ist die Situation derzeit ähnlich. Es gibt unter den ausländischen Jugendlichen weit mehr Schulabbrecher, Problemfälle beim Spracherwerb und Klassenwiederholerinnen. Die zu geringe Bildungsförderung, die Bildungsferne der Eltern, die sozialen Lebensverhältnisse schränken die beruflichen Perspektiven der zweiten Generation ein. In Verbindung mit dem tradierten Rollenverständnis der Frauen vor allem islamischer Zuwanderer führt dies zu einem hohen Anteil von NEETs bei den unter 34-Jährigen. Junge Menschen der zweiten Generation haben in Italien und Südtirol nicht nur mehr Probleme in der Schule und Ausbildung, sondern stoßen auch auf dem Arbeitsmarkt auf ausländerspezifische Hindernisse.
Da Südtirol im Vergleich zu anderen Regionen und Ländern später mit dem Phänomen der Integration konfrontiert wurde, könnte es aus den Erfahrungen anderer lernen und deren Fehler vermeiden. Zu den strategischen Handlungsfeldern der Integration gehören dabei der Spracherwerb, die Schule und die außerschulische Bildung. Die Schulen sind zentrale Instanzen der Integration und interkulturellen Begegnung. Sie sind Wegbereiterinnen der Inklusion. Auch in Südtirol schneiden ausländische Schüler durchschnittlich schlechter ab und brechen öfter die Schule ab, und dies nicht sosehr aus kulturellen, sondern vielmehr aus sozialen Gründen: „Sie entstammen vorwiegend aus einem vergleichsweise schwächeren sozio-ökonomischen Hintergrund mit einem geringeren Bildungsgrad der Eltern.“ (Mitterhofer/Jimenez 2019, 15)
Doch gezielte Bildungsförderung kann diese strukturellen Nachteile der zweiten Generation von Zugewanderten zum Teil wettmachen. Dafür bietet das Südtiroler Schulsystem, wie jenes Italiens allgemein, einige Vorteile. Die einheitliche Pflichtschule für alle, keine Sonderschulen für Leistungsschwache, die besondere Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund, ausreichende Ressourcen der öffentlichen Schule im Allgemeinen verbessern die Chancengleichheit. Sprachenzentren unterstützen die Erlernung der Unterrichtssprache, die entscheidende Voraussetzung für den Bildungserfolg. Im Unterschied zu Nordtirol müssen sich Migrantenfamilien in Südtirol aber zwischen der deutsch- oder italienischsprachigen Schule entscheiden. Da die ausländischen Jugendlichen oft schon zwei Sprachen aus ihrer Familie mitbringen, wäre eine zwei- oder mehrsprachige Schule (mit Englisch) eine Überforderung. Die Erfahrungen in anderen Ländern lehren, dass sich Migrantenkinder schon mit dem Erwerb der dominanten Sprache im Aufnahmeland schwertun. Das in Südtirol bewährte System „Muttersprache + L2 + L3“ vermeidet die Überladung der Schulbildung mit Spracherwerb.
Auf dem Arbeitsmarkt sind Migrantinnen in Südtirol heute mehrheitlich auf geringer qualifizierten und entlohnten Arbeitsplätzen zu finden (vgl. Pokriefke 2016, 331). Das Bild wird geprägt vom ausländischen Bauarbeiter, Busfahrer, der Reinigungskraft und Altenpflegerin. Viele sind für ihren Job überqualifiziert. Gründe dafür sind Sprachbarrieren, die Nicht-Anerkennung von Studientiteln und Arbeitserfahrungen, Zugangsbeschränkungen im öffentlichen Dienst für Drittstaatsangehörige. 21 % aller ausländischen Beschäftigten fühlen sich im Beruf benachteiligt und klagen über Diskriminierung (vgl. Mitterhofer/Jimenez 2019, 21).
Diese Probleme hat die zweite Generation der Zugewanderten nicht mehr, doch ganz ohne Hindernisse wird sich das Berufsleben nicht präsentieren. Untersuchungen in Österreich und Nordtirol belegen die Benachteiligung bei der Bildungsverwertung und der Arbeitsuche der Zugewanderten der dritten Generation: „Diese Benachteiligung kann keinesfalls dem kulturellen Hintergrund der Zugewanderten zugeordnet werden, vielmehr sind sie in den sozialen und rechtlichen Hürden, in informeller und formeller Diskriminierung zu suchen.“ (Hetfleisch/Moser 2011, 150) Die oft schwächere Einbindung in lokale soziale Netzwerke erschwert das Finden einer Lehr- oder Arbeitsstelle. Diskriminierung aufgrund von Namen, Religion oder Hautfarbe führt zu weniger Bewerbungsgesprächen (Jimenez/ Mitterhofer 2019, 20).
Dabei wächst die zweite Generation der Zugewanderten fast immer mehrsprachig auf, hat interkulturelle Kompetenzen, meist auch Auslandserfahrung. Leider wird dies von den Arbeitgebern eher als Hindernis denn als potenzieller Mehrwert gesehen (Jimenez/Mitterhofer 2019, 25). Geografische Mobilität ist für diese Jugendlichen die Norm, nicht die Ausnahme. Südtirol ist nur einer von mehreren Orten, wo sie Verbindungen und Ressourcen haben und sich ihre Zukunft vorstellen können: „Nur 20 % der ausländischen Jugendlichen geben an, Südtirol nicht verlassen zu wollen.“ (Jimenez/Mitterhofer 2019, 26) So bildet der Migrationshintergrund ein Sprungbrett für eine mögliche Karriere und für Erfolg im Ausland, während er aufgrund mangelnder Einbindung ins lokale Gemeinschaftsleben und sozialer Vernetzung vor Ort für eine volle Integration ein Hindernis ist. Wie so oft bleiben Jugendliche mit Migrationshintergrund dann zwischen den Welten: nicht mehr heimisch im Land und der Kultur der Eltern, aber auch nicht ganz heimisch in Südtirol.
„Muss ein Einwanderer aus Bangladesch in Lederhose herumlaufen und Katholik werden, um ein ‚echter‘ Südtiroler zu werden?“, fragte die „Neue Südtiroler Tageszeitung“ den für Integration zuständigen Landesrat Philipp Achammer (SVP) am 2. Februar 2020. „Das verlangt niemand von den Einwanderern!“, so seine Antwort, „Jeder würde nur darüber schmunzeln, wenn ich sagen würde: Richtig integriert ist jemand, der an der Prozession teilnimmt, Lederhosen trägt und regelmäßig die Messe besucht. Das ist nicht die Erwartungshaltung an Integration. Wer aus Bangladesch kommt, hat natürlich das Recht, seine Religion zu leben. Er muss dies aber im Rahmen der Verfassung und des Rechtsstaats tun, jede Form von Extremismus hat hier nichts zu suchen.“
Trotzdem hat das Land Südtirol seit Kurzem den Bezug bestimmter Sozialleistungen durch Drittstaatsangehörige an den Besuch von Sprach- und Landeskundekursen geknüpft. Kann Integration ohne dieses Fordern nicht funktionieren? „Ich bin fest vom Prinzip des ‚Fördern und Forderns‘ überzeugt“, so Landesrat Achammer (Neue Südtiroler Tageszeitung, 2. Februar 2020), „Integration kann nur dann funktionieren, wenn man ganz deutlich einfordert und Regeln festlegt. Wenn man alles dem Zufall überlässt und nicht darauf achtet, dass die Maßnahmen auch umgesetzt werden, ist das sehr realitätsfern. Man kann nicht nur die positiven Fälle, die es auch gibt, hervorheben und sich damit zufriedengeben, sondern muss auch die negativen Fälle offen ansprechen. Integration heißt, zu jedem und jeder hinzukommen.“
Integration ist nur möglich, wenn die Mehrheit kulturelle Verschiedenheit akzeptiert und die Migranten Teil der Gesellschaft werden wollen. Setzt man Zweiteres voraus, wie dies gerade in der zweiten und dritten Generation der Fall ist, liegt es vor allem an der einheimischen Bevölkerung, Ausländer am gesellschaftlichen Leben auch teilhaben zu lassen. Südtirol zeichnet sich durch ein gutes Bildungssystem, einen aufnahmefähigen Arbeitsmarkt, ein dichtes Netz an Vereinen und vielfältige Möglichkeiten sozialer Teilhabe aus. Vor allem Sportvereine sind bei den ausländischen Jugendlichen sehr beliebt. Die meisten Vereine stehen allen offen. Südtirol kann in der Integration von Migranten und Migrantinnen aus den Erfahrungen der Nachbarregionen lernen und politisch die Weichen für bessere Bedingungen dafür stellen. Spätestens für die dritte Generation von Menschen mit Migrationshintergrund wird dann – im Unterschied zum Westen Österreichs heute – Integration kein Thema mehr sein.
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