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Über die Grenze in die Psychiatrie

Elisabeth Dietrich-Daum hat für ihr Buch zu Südtiroler Kindern auf der äußerst fragwürdigen Kinderbeobachtungsstation von Maria Nowak-Vogl recherchiert. Ein Gespräch.
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Foto: Dokumentation Problemkinder, 1980

salto.bz: In ihrem Buch geht um die langjährigen Machenschaften der Leiterin der Kinderbeobachtungsstation Maria Nowak-Vogl in Innsbruck (1957-1987). Im Besonderen um die über 160 Südtiroler Kinder die Nowak-Vogl glaubte zu behandeln. Wie gestaltete sich Ihre Recherche zu diesem Buch in Südtirol?
Elisabeth Dietrich-Daum: Auf Grund der Initiative des Landes Tirol wurden die Akten für Recherchen wissenschaftlicher Art auf Antrag zur Einsicht frei gegeben. Das Südtiroler Landesarchiv war bei der Recherche sehr hilfreich. Die große Schwierigkeit war, dass es keinen Nachlass von Maria Nowak-Vogl gibt, aber auch, dass die Sozialgeschichte Südtirols noch große Lücken hat. Das hat die Forschungsarbeit sehr aufwendig gemacht.

Der ORF-Filmbeitrag „Problemkinder“ aus der Sendereihe „teleobjektiv“ aus dem Jahr 1980 hat viele fragwürdige Arbeitsmethoden von Nowak-Vogl ans Tageslicht gebracht. Weshalb konnte sie so viele Jahre uneingeschränkt agieren?
Durch die über 25 Jahre andauernde Dislozierung der Kinderbeobachtungsstation abseits der Universitätsklinik (in der Sonnenstraße 44, dann 14) und die Art, wie Nowak-Vogl die Station organisierte und führte, konnte kaum jemand Einblick in das Geschehen gewinnen. Dazu kommt, dass Nowak-Vogl als Person verschiedene, zentrale Positionen und Funktionen im regionalen Fürsorgesystem und darüber hinaus gleichzeitig besetzte: Sie war Primaria der Station, Landesfürsorgeärztin der Tiroler Jungendbehörde, Konsiliaria der Landesheime, Vortragende an der Universität, Lehrende und Lehrbeauftragte in Südtirol und Gerichtsgutachterin. An ihr ging kein Weg vorbei. Gleichzeitig konnte sie sich öffentlicher Kontrolle entziehen, weil die Kinderbeobachtungsstation institutionell zwischen Universitätsklinik und Landeskrankenhaus angesiedelt war. Man muss auch berücksichtigen, dass damals noch mehr als heute Einrichtungen der Klinik streng hierarchisch organisiert waren und sie befand sich eben an der Spitze der Hierarchie. Außerdem dürfte die verbreitete Expertengläubigkeit hinderlich für frühe öffentliche Kritik gewesen sein.

Zu den wichtigsten Einweisungsgründen zählten Bettnässen, disziplinäre Schwierigkeiten und Schulprobleme.

Weshalb hat das Land Südtirol in den genannten Jahren viele Kinder mit individuell diagnostizierten speziellen Auffälligkeiten über die Grenze geschickt? Wer traf diese Entscheidungen? Gab es ein Netzwerk?
In den Aufnahmegesprächen an der Kinderbeobachtungsstation wurde regelmäßig notiert, dass es in Südtirol keine geeignete Einrichtung zur Untersuchung, Behandlung und Begutachtung von Kindern mit diesen Diagnosen gebe: sowohl Eltern wie die Organe des ENPMF und des Kinderfürsorgeamtes folgten dieser Argumentation und trafen die entsprechenden Entscheidung. Ein Netzwerk entstand in den 1960er-Jahren insofern, als Nowak-Vogl und die zuständigen Personen in den Fürsorgeeinrichtungen und in den Heimen Südtirols sich kennen lernten und immer wieder gegenseitig adressierten.

Was waren die häufigsten Gründe für eine Einweisung?
Zu den wichtigsten Einweisungsgründen zählten Bettnässen, disziplinäre Schwierigkeiten und Schulprobleme. Nowak-Vogl wurde darüber hinaus aber auch dann adressiert, wenn für ein Kind in Südtirol weder eine Pflegestelle noch ein Heimplatz gefunden werden konnte oder wenn die Eltern die Unterbringung ihres Kindes in einem österreichischen Heim wünschten. Dazu benötigte es ein entsprechendes Gutachten von Nowak-Vogl.

Nowak-Vogl war in Südtirol sehr angesehen, eine Koryphäe in ihrem Bereich. Warum sah die Politik lange Zeit keinen Anlass die Autorität Nowak-Vogl zu hinterfragen?
Darüber kann nur spekuliert werden, es gibt dazu keine Quellen. Fakt ist, dass es in Südtirol erst ab 1992 eine deutschsprachige Kinderpsychiaterin bzw. Psychotherapeutin gab, an die sich die Behörden oder Eltern hätten wenden können. Dieses Vakuum wurde, so hatte Landesrat Theiner selbst festgehalten, jahrzehntelang gefüllt, indem man Patienten und Patientinnen in ambulante und stationäre Einrichtungen des Auslandes (Kliniken, Anstalten, Heime) verbrachte und die anfallenden Kosten dafür erstattete. Nicht nur die Politik, auch die Medien haben Nowak-Vogl als Expertin hochgelobt, so hatte sie regelmäßige Radioauftritte.

Welche Rolle spielte Nowak-Vogl`s Schwester?
Aus den Krankenakten und einzelnen Interviews wissen wir, dass sie sehr streng und bei den Kindern unbeliebt war. Als Schwester der Leiterin hat sie deren Regime unterstützt, sie hat ihr zugearbeitet.

Was geht aus den Akten der damals zuständigen Südtiroler Landeräte für Gesundheitswesen hervor? Wann haben sie das schlimme Spiel von Nowak-Vogl durchschaut?
Aus den Unterlagen, die im Südtiroler Landesarchiv lagern, sind keine diesbezüglichen Hinweise zu entnehmen. Ab den 1970er-Jahren, auch im Zusammenhang mit der Basaglia-Reform, wurden aber Stimmen unter den SozialassistentInnen lauter, die Kinder nicht ins Ausland zu schicken. Diese Appelle bezogen sich aber nicht nur auf die Kinderbeobachtungsstation, sondern meinten auch die Unterbringung von Kindern in österreichischen Behinderteneinrichtungen und Erziehungsheimen, aber auch die Beobachtungsstation von Franz Wurst in Klagenfurt.

Gab es finanzielle Unterstützung aus Südtirol?
Dokumente, die auf Unterstützungen schließen ließen, liegen bislang keine vor. Geld floss als Ausgleich für die Dienstleistung, die die Kinderbeobachtungsstation erbrachte. Die Kinderbeobachtungsstation finanzierte sich in erster Linie aus den Einnahmen der Kostenbeiträge, die Station kassierte den üblichen Kliniksatz. Wie bei Kindern aus Tirol oder den anderen österreichischen Bundesländern haben auch für die Südtiroler Kinder entweder deren Eltern oder die Fürsorgekörperschaften die Unterbringungskosten bezahlt. Ob das Tiroler Jugendamt als Dienstgeber Nowak-Vogl die Einrichtung bezuschusste, kann aufgrund der Aktenlage nicht beantwortet werden.

Waren Problemkinder Futter für gut gefüllte Heime?
In den 1950er- und 1960er-Jahren waren die Tiroler und Vorarlberger Heime gut gefüllt, eigentlich überfüllt, eine „Rekrutierung“ von Südtiroler Kindern wäre nicht „notwendig“ gewesen. Die Aufnahme von Südtiroler Kindern hat eigentlich dann aber in den 1970er Jahren die rückläufige Aufnahmefrequenz in den hiesigen Heimen zum Teil kompensiert.

Gesamtversion des historischen Beitrags "Problemkinder" vom 16.9.1980, gestaltet von Kurt Langbein (Teleobjektiv, Red. Claus Gatterer.) Der Dokumentarfilm machte öffentlich, welch schockierendes Ausmaß an personaler und struktureller Gewalt in der Kinderpsychiatrie, Fürsorgeerziehung und Behindertenhilfe zu dieser Zeit - in den 60er und 70er-Jahren, aber natürlich auch später - üblich war. Der Beitrag löste politische, fachliche und persönliche Beben aus, die bis heute nicht überwunden sind. /Quelle ORF, Youtube