"Südtirol ist keine Insel"

Sehr geehrter Herr Landtagspräsident,
Sehr geehrter Herr Landeshauptmann,
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete des Südtiroler Landtages,
Sehr geehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
ich danke Ihnen herzlich für die Einladung.
Wenn wir von der Ökonomie des Gemeinwesens sprechen, dann geht es um die Beziehung von Wirtschaft und Gesellschaft, um das Verhältnis von legitimem Eigeninteresse und Gemeinwohl und um die verantwortungsbewusste Ausgestaltung der beiden Bereiche. Mit den Maßverhältnissen der Beziehung von Wirtschaft und Gesellschaft setzen sich Menschen seit den Ursprüngen des europäischen Denkens auseinander. Noch nie aber war die Frage nach der pfleglichen Bewirtschaftung unserer Lebensgrundlagen lokal und global und nach der Gestaltung eines wohl geordneten Gemeinwesens so weitreichend und so komplex wie heute, in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts, die geprägt ist von globalen Entgrenzungen und Verflechtungen, von wachsenden Abhängigkeiten und Bedrohungen
Wir haben das Glück, in Südtirol in einem weitgehend wohl geordneten Gemeinwesen zu leben, dessen Wirtschaftskultur geprägt ist von dem, was der Wirtschaftswissenschaftler Karl Polanyi als zentrales Element integrierter Gesellschaften bezeichnet hat, die Einbettung des wirtschaftlichen Handelns in sein soziales und kulturelles Umfeld. Die Unternehmenslandschaft Südtirols ist überwiegend diversifiziert. Vielfalt ist die Basis der Evolution, nicht nur in der Biologie, sondern auch in Kultur und Wirtschaft.
Viele Unternehmen in Südtirol sind Inhabergeführt und es gibt zudem zahlreiche Familienbetriebe in denen sich Wirtschaftliches und Soziales eng vermischen. Die reine Shareholderlogik der ausschließlichen Gewinnmaximierung hat in Unternehmen kaum eine Chance, die von Bürgerinnen und Bürgern des einbettenden Gemeinwesens geführt werden.
Gerade kleine und Kleinstunternehmen erweisen sich zudem als flexibel und resilient. Kleine Boote sind manövrierfähiger als Supertanker, dies hat uns der Salzburger alternative Nobelpreisträger Leopold Kohr in die Agenda geschrieben, der sich mit der Frage nach dem rechten menschlichen Maß in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft auseinander gesetzt hat. Es gibt auch immer noch die spezifischen Verflechtungen und Arbeitsteilungen in der Stadt-Land-Beziehung dieses Landes, die eine stabilisierende Basis bilden.
Südtirol verfügt über ein wertvolles Gut, dessen Verlust vielfach in den modernen Gesellschaften beweint wird, das so genannte soziale Kapital, der aus Vertrauen gebildete Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält. Sozialkapital wirkt in wirtschaftlichen Transaktionsprozessen als die tragende Vertrauensbasis, deren Verlust ein hohes Maß an vertraglichen Absicherungen und hohe Kosten verursacht. Das Rechtsamt der Südtiroler Landesverwaltung hat jüngst festgestellt, dass Südtirol im Vergleich zu anderen Gebieten relativ wenige zeitaufwändige und teure Rechtsstreitigkeiten im Wirtschaftsbereich zu verzeichnen hat.
Wir sollten uns dieser besonderen Stärken bewusst sein und sie pflegen und erhalten. Südtirol ist jedoch keine Insel und die kumulierenden politischen, sozialen und ökonomischen Verheerungen an den Rändern Europas lassen sich nicht mehr als die Probleme der anderen abtun. Ebenso wenig ist es möglich, die Augen zu verschließen vor den evident werdenden Herausforderungen des Klimawandels und der Grenzen des Wachstums. Das Ausmaß und die Vielschichtigkeit der ungelösten Gegenwarts- und Zukunftsfragen macht deutlich, dass nichts unmöglicher ist, als ein „Weiter-So“. Nahezu alle Säulen der industriellen Moderne sind massiv ins Wanken geraten oder bereits eingebrochen sind. Wir können die unbequemen Wahrheiten nicht mehr ignorieren, die uns zum Handeln zwingen.
Ich kann mich im Folgenden nur auf wenige dieser Herausforderungen beschränken und stütze mich argumentativ auch auf Papst Francesco Bergoglio, der mit seiner Lehrschrift Evangeli gaudium und der Enzyklika Laudato si eine hervorragende Denk- und Handlungsgrundlage, nicht nur für die katholische Welt, vorgelegt hat.
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Klimawandel und Wachstumswende:
Dass die Grenzen des Wachstums erreicht sind, wissen wir seit Dennis und Donella Meadows Bericht für den Club of Rome von 1972. Der Horizont des 21. Jahrhunderts ist bestimmt von der Revision der zentralen Vorstellung der industriellen Moderne, der des grenzenlosen Wachstums vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen und Aufnahmekapazitäten des Globus. Die Bewältigung der damit verbundenen Herausforderungen erfordert die Neuorganisation, von Produktion, Distribution persönlichen Lebensstilen und menschlichem Zusammenleben.
Dieses Wachstum, so Francesco Bergoglio, setzt die Lüge bezüglich der unbegrenzten Verfügbarkeit der Güter des Planeten voraus, die dazu führt, ihn bis zur Grenze und darüber hinaus auszupressen. Und weiter: „Nach einer Zeit irrationalen Vertrauens auf den Fortschritt und das menschliche Können tritt jetzt ein Teil der Gesellschaft in eine Phase stärkerer Bewusstheit ein.“ Es geht, so Bergoglio schlicht darum, den Fortschritt neu zu definieren. Eine Entwicklung, die nicht eine bessere Welt und eine höhere Lebensqualität hinterlasse, könne nicht als Fortschritt betrachtet werden. Wachstum in Gerechtigkeit erfordere etwas, das mehr sei als Wirtschaftswachstum (…).“
Es gibt Ansätze der Versöhnung von Wirtschaft, Gesellschaft und Natur, mit denen auch Südtirol zur Entwicklung einer enkeltauglichen Zukunft beitragen kann, z.B durch die gezielte Förderung der Ansiedlung von innovativen Unternehmen, die mit sauberen Technologien, Umwelt- und Gesundheitsgefahren sowie Ressourcenverbrauch verringern, durch öffentliche Investitionen in erneuerbare Energien und energetische Sanierung des Altbaubestandes oder bauliche und infrastrukturelle Anpassungen von Gemeinden an die Bedürfnisse einer alternden Gesellschaft.
Hervor zu heben ist, dass sich in Südtirol mehr als 100 Unternehmen der Initiative Gemeinwohlökonomie angeschlossen und damit zu ihrer ökosozialen Verpflichtung bekannt haben. Mit dem Beschluss des Landtages vom 18.12. 2014 beauftragte dieser die Südtiroler Landesregierung, die ökosozialen Kriterien der Gemeinwohlökonomie bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen zu berücksichtigen (soweit EU-konform), Gemeinwohlunternehmen bei möglichen Förderungen zu bevorzugen und Gemeinwohlgemeinden zu fördern. Dies ist ein starkes Signal, dem eine entsprechende Praxis folgen sollte.
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Globale Ungleichheiten
Die soeben veröffentlichte Agenda 2030 zur nachhaltigen Weltentwicklung stellt die Bekämpfung von Armut und Hunger ins Zentrum aller Bemühungen um Nachhaltigkeit. Alle 5 Sekunden stirbt ein Kind an Hunger, in einer Welt des Überflusses und der massenhaften Vernichtung von Lebensmitteln. Ein Fünftel der Weltbevölkerung zu dem auch wir gehören, verbraucht vier Fünftel aller Ressourcen. Großkonzerne eignen sich weltweit die Lebensgüter Boden und Wasser an, die Menschen brauchen, um das Nötigste für sich und ihre Familien zu produzieren. Sie zwingen sie damit in die ausufernden Städte, die keine Existenzbasis mehr bieten und sie zwingen sie in die Migration.
Eine Studie der Entwicklungsorganisation „European Network on Debt and Development“, die diesen Herbst veröffentlicht wurde stellt fest: Weltweit fließt etwa doppelt so viel Geld aus den Entwicklungsländern in die Industrienationen. Die klassische „Entwicklungshilfe“ aus Steuergeldern macht bei den Kapitalflüssen nur 90 Milliarden aus. Etwa 350 Milliarden Dollar senden Migranten aus den Industriestaaten an ihre Familien in Afrika, Asien und Lateinamerika. Über 630 Milliarden Dollar Schwarzgeld, aus Drogen- oder anderen Schmuggelgeschäften überwiesen 2012 Kriminelle aus dem Süden in den Norden und fast 500 Milliarden an Profiten transferierten multinationale Firmen legal an ihre Aktionäre im Norden.
„Die Ungleichverteilung der Einkünfte ist die Wurzel der sozialen Übel,“ so Bergoglio in seiner Lehrschrift Laudato si. Er bekennt die koloniale Schuld der reichen Länder, auch der katholischen Kirche und prangert die neokolonialen Entwicklungen sowie die ökologische Schuld der reichen Länder gegenüber dem globalen Süden an. Bergoglio stellt damit die weltweite Migration in den Kontext des neuen und alten Kolonialismus, der die armen Länder zu Zulieferern billiger Rohstoffe und Arbeitskräfte degradiert habe und Elend, Gewalt, Zwangsmigration und andere Probleme erzeugt habe. Die Erde, so Bergoglio ist ein gemeinsames Erbe, dessen Früchte allen zugute kommen müssen.
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Förderung der solidarischen Ökonomie
Er fordert politische Entscheidungen und Programme, die ausgerichtet sind auf die ganzheitliche Förderung der Armen die mehr sind als bloße Sozialhilfe. Philanthropische Hilfen seien als Erstintervention zwar nötig, aber Formen der Einbeziehung durch freie, kreative und solidarische Arbeit könnten dadurch nicht ersetzt werden. Es geht, so Bergoglio, um kreative Alternativen im alltäglichen Streben nach dem Elementaren, nach Arbeit, Wohnung und Boden.
Er spricht in diesem Zusammenhang von der Würde der solidarischen Ökonomie und empfiehlt, dass gemeinsam mit den Ausgeschlossenen in aller Welt diese Form der Wirtschaft durch die Gründung von Genossenschaften gefördert wird. Die Regierungen fordert er auf, diese Formen der Ökonomie und der Gemeinschaftsproduktion zu fördern, „für eine geeignete Infrastruktur zu sorgen und den Arbeitern dieses Sektors volle Rechte zu garantieren.“ Es bedürfe einer Wirtschaft, welche Produktionsvielfalt, Kleinunternehmen und Unternehmerkreativität begünstige.
Dieser Aufruf könnte als Anregung zur wirtschaftlichen Integration der Menschen mit Migrationshintergrund in unserem Land aber auch zur Förderung von Strukturen in den Herkunftsländern verstanden werden. Auch wenn keine verlässlichen Vergleichszahlen für Südtirol vorliegen und insbesondere in diesem Segment mit einer hohen Dunkelziffer zu rechnen ist, ist mit einer Arbeitslosenquote bei Migrantinnen und Migranten von über 30% zu rechnen. Als Alternative zur Arbeitslosigkeit wagen Migranten gerade in Zeiten der Wirtschaftskrise den Weg in die Selbsttätigkeit. Wie die Zahlen zeigen, handelt es sich nicht um Randphänomene. In Trentino Südtirol wurden im Jahre 2014 11.404 Unternehmer mit Migrationshintergrund gezählt. Im Zeitraum von 2009 - 2014 bedeutete dies ein Plus von 18,2%.
Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung der unternehmerischen Tätigkeit der Menschen mit Migrationshintergrund und ihre eigene Integrationsleistung sind immens. Sie sind Vermittler zwischen den Kulturen und tragen so zur gesellschaftlichen Integration bei. Sie sorgen für Branchen-, Dienstleistungs- und Produktvielfalt und können Arbeits- und Ausbildungsplätze schaffen. Im Zeitalter der zunehmenden globalen wirtschaftlichen Verflechtungen kommt ihnen, gerade im lokalen Kontext, eine Schlüsselstellung zu.
Eine gezielte Unterstützung dieser wirtschaftlichen Pioniere und eine konzertierte Aktion der Kammern, Bildungsträger, Universitäten, Genossenschaftsverbände und der Kirche könnte dazu beitragen, die aktuelle Situation als Entwicklungschance zu gestalten.
Abschließend noch eine Weihnachtsgeschichte:
Im Juli 1998 strandeten 200 kurdische Flüchtlinge an der kalabrischen Küste von Riace Marina. Die nahezu verlassene Gemeinde betrachtete deren Aufnahme als Chance und hat im Lauf der vergangenen Jahre durch die Ansiedlung von Flüchtlingen aus aller Welt einen einzigartigen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung erlebt, der den berühmten deutschen Filmemacher Wim Wenders zur Produktion seines Dokumentarfilms „Il Volo“ veranlasste.
Der Bürgermeister des Dorfes, Domenico Lucano, der 2010 den World Mayor Award erhielt, beantragte bei der kalabrischen Regierung eine Sondergenehmigung für die Aufnahme von Flüchtlingen und nahm für die Gemeinde einen Kredit auf, um mit Unterstützung des Flüchtlingshilfswerks der vereinten Nationen UNHCR gemeinsam mit den Flüchtlingen die verlassenen Häuser der Gemeinde zu renovieren und die Menschen dort zu beherbergen.
Die Ansiedlung der Menschen aus aller Welt belebte das Dorf kulturell und wirtschaftlich und machte es zu einem touristischen Magnet. Die neuen Bewohner haben Läden mit Kunsthandwerk, eine Bäckerei, einen Friseursalon und einen Laden mit biologisch produzierten Lebensmitteln eröffnet. Das Dorf hat wegen des Zuzugs junger Familien sogar wieder eine Schule.
Nicht nur in Kalabrien stehen Dörfer leer und Felder werden nicht bestellt. Riace steht für eine Möglichkeit, die in vielen peripheren Gebieten Europas Wirklichkeit werden könnte. Mittlerweile folgen auch die beiden Nachbardörfer Caulonia und Stignano dem Vorbild von Riace.
Menschen aus anderen Weltregionen auf der Suche nach Lebensperspektiven in Europa sind eine Lebensperspektive für Europa.
Frohe Weihnachten und herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Die Sozialwissenschaftlerin Susanne Elsen beschäftigt sich in ihren Forschungen vornehmlich mit Sozialer Innovation, Lokaler Entwicklung und Wirtschaft in der Gemeinschaft sowie Nachhaltigkeit und Postwachstumsgesellschaft Seit 2010 lehrt sie an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Freien Universität Bozen.