Politics | Brenner

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Eine wehmütige Liebeserklärung an zwei blecherne Verkehrsschilder.

Habe ich es gerade mühselig geschafft, hinauf auf den Brenner, habe mit dem Niemandslandtunnel auch Südtirol hinter mir gelassen, empfängt mich das grenzenfreie Europa warm mit zwei Schildern, eines links, eines rechts von der Straße: 60km/h.  

Nein, ich könnte wirklich nicht behaupten, mich jemals strikt an diese Geschwindigkeitsbegrenzung gehalten zu haben. Nicht etwa aus mangelndem Respekt vor Nordtiroler Obrigkeit, nicht aus dem ‒ üblicherweise Fahrern von Süddeutschen Automarken zugesprochenen ‒ Beweggrund, sondern weil mir der Spruch „freie Fahrt für freie Bürger“ am Brenner oben so unendlich viel gibt. Aber achtlos bin ich nie an diesen Schildern vorbeigefahren, kein einziges Mal ‒ nicht an diesen Schildern, die die Welt bedeuten! 

Allzu sehr kann ich mich an die Kontrollen erinneren, damals, bis weit in die 90er Jahre. Kontrollen, Stau, Schikanen. Aber um fair zu bleiben: Letztere gab es hauptsächlich heimwärts. Damals, als wir unser Heimatgefühl noch über die Überwindung eben dieser Hürde definierten. Wenn die Nordtiroler jetzt wieder Kontrollen einführen, was werde ich die 60km/h-Schilder vermissen! Wo bleibt die freie Fahrt des Europabürgers? Trotzdem, eine Wiederbelebung der früheren Schikanen des Italienischen Zolls fürchte ich deswegen immer noch nicht. Nicht nordwärts, wenigstens. Waren dürfen ja weiterhin frei verkehren. Nur menschliche Ware halt nicht. 

Mit 30km/h sollen wir zwecks „Sichtkontrolle“ in Zukunft übern Brenner fahren. So ein Schmarrn. 30km/h auf der Autobahn heißt: Stau! Die lieben Bundesdeutschen, die Österreich gerade heftig kritisieren, machen es vor. Sie kontrollieren bei Kiefersfelden schon seit einem halben Jahr. No Panik: „nur Sichtkontrolle“. Also nur ein kurzer Blick, ob meine Visage der reinen Rasse entspricht. Trotzdem sind Wartezeiten über eine halbe Stunde überhaupt keine Ausnahme. Es wäre gegen die Physik. Darüber poltern CSU-Politiker in diversen Talkshows etwas weniger laut. Keiner spricht von den Münchner Skifahren, die auf der sonntägliche Heimreise von der Spritztour ins Zillertal oder nach Kitzbühl sich auch wegen der „nur-Sichtkontrolle“ durchaus schikaniert fühlen, wenn die Fahrt halt eine halbe Stunde länger dauert, die aufgekratzen Kinder eine halbe Stunde später ins Bett kommen.

Wie tröstlich ist es doch, mir die grundlegene Gerechtigkeit von Staus zu vergegenwärtigen. Dann, wenn ich etwas knapp in der Zeit die Geduld und das Verständnis für die Deutschen tief in meinem Inneren suche, bemüht, mit tiefem Ein- und Ausatmen meiner Gemütslage Herr zu werden. Staus sind gerecht, sie betreffen alle: Schnelle und langsame Autos, menschliche Ware und nicht-menschliche Ware. Nicht nur ich fühle mich schikaniert, sondern auch die eigenen Landsleute der CSU. Ich seh es an ihren fluchenden Gesichtern hinter den Autoscheiben. Ja, diese Gerechtigkeit tut mir gut, macht den Verlust der halben Stunde Lebenszeit etwas erträglicher.

Und ich beginne die halbe Stunde kreativ zu nutzen. Spiele Rachegedanken durch. Am Fronleichnams-Rückreisesonntag werde auch ich über den Brenner fahren und zwar von Bozen bis Innsbruck mit 30km/h und das auf der Überholspur. Nur um sicher zu gehen, sollte die Rache der Österreichischen Grenzbeamten sonst zu wenig Wirkung zeigen. Aber halt: Noch stehen meine 60er Schilder am Brenner, trotzen dort heute immer noch dem Wetter, obwohl die Deutschen bei Kiefersfelden schon seit einem halben Jahr „Sichtkontrollen“ machen. Respekt den Österreichern! Nur der einen nicht, dieser Mikl-Leitner. Vielleicht sind es gar nicht die „Sichtkontrollen“, die mich derart erregen, sondern vielmehr das Vokabular, mit dem sie begründet werden. Die Vergrämungszahl 81, die unbeantwortet schaurige Phantasie beflügelt. Stacheldrahtbilder vor Augen, gepaart mit der Erkenntnis, dass wir uns nicht von traurigen Kinderaugen hinterm Stacheldraht erpressen lassen dürfen, muss ich der Mikl-Leitner schon anrechnen, dass das Gepolter von Freiheitlichen, CSU-lern und AfDlern nun endlich von dem der politischen Mitte übertönt wird. Und dann auch noch umgesetzt wird!

Wenn ihr also die 60km/h (hoffentlich temporär) mit 30km/h ersetzt, eine Bitte: Stülpt meinen 60er-Schildern keinen schwarzen Sack über. Derart grässliche Bilder kennen wir nämlich aus jenen Ländern, aus denen die Flüchtlinge, vor denen ihr uns schützen wollt, eben kommen. Und noch eine: Das Höchstgrenzen-80er-Schild stellt bitte so hin, dass ein paar Kerzen davor Platz haben. Danke.

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Andreas Gottli… Mon, 02/29/2016 - 10:10

Sehr schöner Beitrag über diejenigen Politiker(innen) wie Seehofer und Mikl-Leitner, die in ihrer selbstgerechten Kurzsichtigkeit AfD und Pegida (für die ich mich stellvertretend schäme!) rechts überholen. Europa wir an seinem Rückfall in den mirleidlosen geistigen Faschismus zerfallen: Marina LePen Präsidentin in Frankreich, Seehofer Kanzler in Deutschland, der BGM von London britischer Premier und die Orbanisierung des ganzen Restes. Vielleicht schaffen wir ja dann auch den Dritten Weltkrieg auf europäischem Boden und können als Flüchtlinge die Empfangsbereitschaft von Muslimen und Afrikanern testen!

Mon, 02/29/2016 - 10:10 Permalink