Society | Interview

„Es ist ein Ablenkungsmanöver“

Sozialpädagoge Thomas Kobler über rechtsextreme Gruppen wie die „Junge Aktion“ und was ihm heute Angst macht. Der 25. April erinnere nicht ohne Grund an die Befreiung von dem Nazifaschismus in Italien.
Thomas Kobler
Foto: privat
  • SALTO: Herr Kobler, heute feiert Italien die Befreiung vom Nazifaschismus. 80 Jahre später müssen wir allerdings ähnlich rechtsextreme Tendenzen feststellen…

    Thomas Kobler: Der 25. April soll uns nicht nur an die Befreiung erinnern, sondern auch daran, dass wir tagtäglich gegen menschenfeindliche Abwertungen und Diskriminierungen aufstehen müssen. Denn das verletzt Menschengruppen, die möglicherweise als schwach oder schwächer gelesen werden. Sie stellen häufig Minderheiten dar, die weniger Rechte als andere haben. Ich vermisse diese eigentlich christliche Tradition bei Aussagen von Politikerinnen und Politikern, die den engen Bezug Tirols zum Christentum in Sonntagsreden betonen. 

     

    „Aber es ist ein Ablenkungsmanöver von eigentlich wichtigeren Bereichen wie Bildung, Gesundheit, demografischer Wandel oder Klimaerwärmung.“

     

    Wie schätzen Sie die Gruppe „Junge Aktion“ im Pustertal ein, gegen die Ermittlungen der Polizeisondereinheit DIGOS laufen?

    Die Gruppe ist als rechtsextrem einzustufen, auch wenn nach den Schlagzeilen jetzt einer von ihnen im Video seine Maske runternimmt. Sie haben den White-Power-Gruß gezeigt, der die Vormachtstellung der weißen Rasse in Europa und den USA in der rechtsextremen Szene symbolisiert. Auf ihrer Webseite fordern sie die Freilassung eines Neonazis aus Südtirol, der in Österreich wegen Wiederbetätigung inhaftiert ist. Solche Gruppierungen stützen sich auf Vorgänger, die Gewaltaten, Mord und Totschlag begangen haben. Auch die Sächsischen Separatisten (SS) haben mit Wehrsportgruppenübungen im Wald begonnen, sich dann weiter radikalisiert und Anschläge geplant. Sie wurden in den letzten Monaten in Deutschland verhaftet. 

    Welche Ziele verfolgen solche rechtsextreme Gruppen? 

    Es muss nicht die „Junge Aktion“ sein, aber solche Gruppierungen bereiten sich häufig auf den sogenannten Tag X vor. Das ist ein unbestimmter Tag in der Zukunft, an dem sich solche Gruppen europa- oder weltweit zusammenschließen, um bei einem Systemausfall der Gesellschaft wie ein Stromausfall oder eine Umweltkatastrophe mit Gewalt an die Macht zu kommen. Das darf nicht verharmlost werden. Die rechtsextreme Szene hat in Deutschland Verbindungen in Militär und Polizei, schätzungsweise handelt es sich um Hunderte Personen, die gewaltbereit sind. Da wir eine Energiekrise, einen Krieg in Europa und gesellschaftliche Verwerfungen beobachten, hinterlässt das bei mir kein gutes Gefühl. Unsere Demokratie steht offensichtlich gerade auf sehr wackeligen Beinen, weil sie von so vielen Menschen draußen in Frage gestellt wird. 

  • Jugendliche: Um Radikalisierung vorzubeugen, braucht es verschiedene Ansätze, erklärt Sozialpädagoge Thomas Kobler. Foto: Unsplash/Карина Низаметдинова
  • Worin sehen Sie die Ursache dieser Entwicklung?

    Rechte Parteien und die nach Effekt haschenden Medien wollen uns davon überzeugen, dass Migration und die sogenannte „Ausländergewalt“ die dringendsten Themen unserer Gesellschaft sind. Es ist natürlich ein sehr wichtiges Thema, Migration muss auf verschiedenen Ebenen begleitet und organisiert werden. Aber es ist ein Ablenkungsmanöver von eigentlich wichtigeren Bereichen wie Bildung, Gesundheit, demografischer Wandel oder Klimaerwärmung. In Krisenzeiten, egal ob 1929, 1979, 2015 oder heute, laufen die Menschen tendenziell jenen Parteien nach, die einfache Lösungen und einen „sicheren“ Hafen versprechen. 

     

    „Viele Menschen leben in einer schnellen und gestressten Welt, wo fast ausschließlich Emotionen zählen.“

     

    Die Angst vor Gewalt beziehungsweise selbst zu den „Abgehängten“ und „Opfern“ zu gehören, erzeugt bei vielen eine Art Fluchtreflex und sie schlagen sich plötzlich auf die dunkle Seite der Macht. Und gerade in Krisenzeiten haben wir historisch immer wieder sehen können, dass Feindbilder und Stereotype über bestimmte Menschengruppen verstärkt sicht- und hörbar wurden, vom „Jude“ bis hin zum „Walschen“ oder „Ausländer“.

    In den Kriminalstatistiken ist der Anteil an Ausländern überdurchschnittlich hoch. Wie sind solche Statistiken zu bewerten?

    Fakt ist, dass in Südtirol schwere Strafdelikte weniger werden und Gewalt viel häufiger im privaten und familiären Umfeld vorkommt, Stichwort Partnergewalt. Es stimmt, dass vor allem junge und ausländisch gelesene Männer zwischen 16 und 25 Jahren straffällig werden. Doch diese Gewalt im öffentlichen Raum hat soziale und strukturelle Faktoren. Als Schulsozialpädagoge habe ich einmal einen Jugendlichen begleitet, der als sehr schwierig galt. Weil er als Ausländer gelesen wurde, war er in der Grund- und Mittelschule über Jahre hinweg Mobbing und Gewalt ausgesetzt. Seinen Eltern fehlte das Geld, ihn bei einem Verein anzumelden, was ihm die Integration erleichtert hätte. Als er in die Oberschule gekommen ist, hat er dann entschieden, selbst auszuteilen. 

    Wie kann Radikalisierung – ob Kriminaliltät oder Rechtsextremismus – bei Jugendlichen verhindert werden?

    Das ist die Gretchenfrage und es braucht sicher verschiedene Ansätze. Was mir allerdings in der öffentlichen Debatte am meisten fehlt, ist eine positive Geschichte über Migration. Ohne eingewanderte Arbeitskräfte müssten wir in vielen Sektoren in Südtirol zusperren. Ich finde es schade, dass nicht öfter Hoteliers, Bauern und Betreiber von Krankenhäusern oder Altersheimen darauf hinweisen. Diese Erzählung wird kaum gehört. 

    Welchen Mehrwert hätte es, wenn mehr positive Geschichten erzählt werden?

    Komplexe Themen brauchen Zeit, Ruhe und verschiedene Betrachtungsweisen, um erklärt zu werden. Erst dann sind Lösungen möglich, die aber ebenfalls komplex sind und deren Umsetzung viel Zeit braucht und das ist das Problem. Politikerinnen und Politiker brauchen kurzfristige Erfolge und sind ständig im Wahlkampf. So kann man nicht an langfristigen Projekten und gesellschaftlicher Veränderung arbeiten. Viele Menschen leben in einer schnellen und gestressten Welt, wo fast ausschließlich Emotionen zählen. Verstand und Wissenschaft würden hingegen eine differenzierte und vielfältige Betrachtungsweise bieten, aber das wird seit mehreren Jahren stark vernachlässigt.