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Karies, wo keine ist

Welche Art von Menschen geht Medizin oder verwandte Bereiche studieren? Und wie kann sich das ändern im Zuge der aktuellen Reform zum Medizinzugang an den Universitäten?
Rektoratsgebäude in Bozen
Foto: Eisenstecken, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18694430
  • Im Zuge der aktuellen Reform des Zugangs zum Medizinstudium verändert sich nicht nur die Prüfungsmodalität – es ändern sich womöglich auch die Menschen, die sich für den Arztberuf entscheiden. Mirco Tonin, Professor an der freien Universität Bozen hat sich – gemeinsam mit Alessandro Fedele (ebenfalls unibz) und Prof. Daniel Wiesen der Universität Köln –intensiv mit den Eigenschaften jener Studierenden beschäftigt, die unter dem alten System in das Medizinstudium aufgenommen wurden. „Das frühere System zog kognitiv starke, aber auch besonders motivierte und altruistisch eingestellte Kandidaten an“, sagt Tonin. Sie wollten nicht bloß Geld verdienen, sondern hatten Lust zu helfen, so die Erkenntnis. Das sei gerade in der Medizin essenziell: „Wenn der Zahnarzt nur auf Gewinn aus ist, dann findet er Karies auch dort, wo keine ist.

    Mit der neuen Reform entfällt der klassische Aufnahmetest, stattdessen zählt die Leistung nach einem einführenden Semester. Das reduziert laut Tonin den Stressfaktor. Durch die Verteilung der Leistungserhebungen über mehrere Termine sei das neue Modell gerechter, zumindest was die Messung von Wissen betrifft.

    Allerdings: Stressresistenz sei für Ärzte zentral – vor allem in Notfällen. In gewisser Weise habe das alte System jene bevorzugt, die mit Druck umgehen können. Ob das neue System also auch die geeigneteren Persönlichkeiten auswählt, bleibt offen.
     

  • Mirco Tonin: „Wenn der Zahnarzt nur auf Gewinn aus ist, dann findet er Karies auch dort, wo keine ist.“ Foto: unibz
  • Der Hintergrund

    Eine neue Studie der Freien Universität Bozen und der Universität Köln zeigt, dass das bisherige Zulassungsverfahren für das Medizinstudium in Italien gut funktionierte: Es zog Bewerber an, die nicht nur kognitiv leistungsfähig, sondern auch intrinsisch motiviert, altruistisch und emotional stabil seien – Eigenschaften, die für den Arztberuf besonders wichtig sind. Die Untersuchung basiert auf einem Vergleich zwischen 369 Medizinstudierenden und 647 gleichaltrigen Nicht-Medizin-Bewerbern in Italien und Österreich. Die Ergebnisse sprächen klar für die Qualität der bisherigen Auswahl, die auf einem standardisierten Aufnahmetest basierte.

    Mit der jüngst eingeleiteten Reform – dem Ersatz des Tests durch ein „Probesemester“ – verfolge die italienische Politik das Ziel, den Mangel an medizinischem Fachpersonal zu bekämpfen und die Zugangshürden zu senken. Laut den Studienautoren könnte dies zwar die soziale Durchlässigkeit fördern, birgt aber gleichzeitig die Gefahr, weniger geeignete oder weniger motivierte Kandidaten anzuziehen. Das Risiko liegt vor allem darin, dass die Reform als „Erleichterung“ wahrgenommen werden könnte – und damit das hohe Qualifikationsniveau der Bewerber gefährdet werde.

    Besonders kritisch sehen die Forscher, dass der frühere Test tendenziell junge Menschen benachteiligte, die unter Stress leiden, wenig Übung mit Multiple-Choice-Formaten haben oder aus weniger bildungsnahen Haushalten stammen. Gerade für diese Gruppen könnte die Reform ein faireres System schaffen. Dennoch mahnen die Studienautoren, die bisherigen positiven Effekte der Selbstauswahl nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Die zentrale Herausforderung sei nun, ein neues Auswahlmodell zu finden, das weiterhin sowohl Leistung als auch Motivation berücksichtigt – idealerweise bei größerer sozialer Gerechtigkeit.

    Wie sich das neue System langfristig auswirkt, wird sich erst zeigen.

     

  • Alle(s) neu?

    Die neue Reform verspricht jedoch keinen breiteren Zugang zur Medizin – die Anzahl der Studienplätze bleibt gleich. Es werde nun nur anders ausgesiebt. Allerdings könnte die Reform das Interesse an verwandten Gesundheitsberufen steigern. Wer nach dem ersten Semester nicht in Medizin aufgenommen wird, könnte sich für Pflegeberufe entscheiden – ein Bereich mit gravierendem Fachkräftemangel. Aber: Pfleger hätten schlechtere Arbeitsbedingungen, geringeres Prestige, weniger Gehalt. Daran sei zu arbeiten. 

    Zur Arztknappheit meint Tonin: „Die Babyboomer brauchen immer mehr medizinische Hilfe – und gleichzeitig gehen die Babyboomer-Ärzte in Pension.“ Ein doppelter Engpass. Das Hauptproblem dabei sei jedoch nicht die Zahl der Studienplätze – sondern mangelnde langfristige Planung. Man hätte vor zehn Jahren handeln müssen. Wer heute mehr Medizin-Studienplätze schaffen würde, bekäme die ausgebildeten Ärzte frühestens in acht bis zehn Jahren. Kurzfristig helfe nur der Zuzug von Fachpersonal aus dem Ausland oder eine Umverteilung der Aufgaben im Gesundheitssystem. Nicht alles müsse von einem Arzt gemacht werden.