Der Prüfstein der Stadt
Fährt man vom Zentrum in den Bozner Boden, so führt die Straße zunächst an der Rittner Seilbahn vorbei, neigt sich dann und unterquert die Zuggleise. Die Unterführung dort ist dunkel und eng, als Autofahrer muss man schon mal aufpassen, mit dem Wagen nicht sein Gegenüber zu rammen. Im Durchgang, der für die Fußgänger bestimmt ist, sind die Wände mit verschiedenen aufgesprühten Schriften beschmiert. Meist prangen verschiedene „Künstler“-Namen drauf, aber auch politische Ansagen aus rechtem wie linkem Spektrum. Gemeinsam ist ihnen allen nur eines: Sie sind hässlich. Und sie passen damit zur Umgebung der Unterführung, die etwas unverkennbar Schmuddeliges und Vernachlässigtes hat, sie vermittelt dem Fußgänger, Rad- oder Autofahrer, der aus dem Rest der Stadt kommt: Achtung. Sie betreten jetzt sich selbst überlassenes Gebiet, einen abgetrennten Teil der Stadt.
Das mag etwas krass formuliert sein. Dass das Viertel „Bozner Boden“ einen schlechten Ruf hat, ist jedoch allgemein bekannt. Thomas Mantinger, der selbst im Viertel - in der Dolomitenstraße - wohnt, bekommt das nicht selten zu spüren. Der 19-Jährige beklagt vor allem die Prostitution in der nahegelegenen Schlachthofstraße, die unter seinen Freunden und Bekannten als zuverlässiger Anlass zu dummen Witzen dient. „Sonst gefällt es mir hier eigentlich gut“, sagt Mantinger. „Die Straße, in der ich wohne, ist ruhig, gleich nebenan gibt es einen Spielplatz, der als Treffpunkt dient, und mit dem Rad bin ich in fünf Minuten mitten im Zentrum.“ Aus Mantingers Worten geht hervor, dass die Gegend Potential hätte. Vor allem die Lage ist hervorragend, eine gute Anbindung zum Zentrum fehlt aber noch. Und in der Schlachthofstraße, nur einige Schritte weiter, ist es nicht so ruhig wie in der Dolomitenstraße.
Flüchtlinge und Prostituierte
„Die Schlachthofstraße ist der Hauptgrund, warum das Viertel einen schlechten Ruf hat“, erklärt Armin Widmann, Vorsitzender des zuständigen Stadtviertelrates. Und sogleich zählt er einige der Dinge auf, die sich hier ereignen oder ereignet haben: Zuhälterei; Drogendealen; die sogenannte „Baby-Gang“, die auch hier ihr Unwesen trieb; Menschen, die bedroht und belästigt werden. Außerdem gibt es noch die Flüchtlinge, die in der Ex-Gorio-Kaserne untergebracht sind. Seit einem Jahr, nachdem die Vereinigung „Volontarius“ sich aktiv in der Ex-Kaserne betätigt, läuft es besser. Aber vorher sollen sich einige Flüchtlinge - so berichten manche Anwohner - nicht gerade durch Unauffälligkeit hervorgetan haben. Einzelne von ihnen, die öffentlich ihr Geschäft verrichtet und Passanten belästigt haben sollen, trieben einige Anwohner dazu, sich mit einer Unterschriftensammlung und der Klage über „exzessive Präsenz“ von Flüchtlingen an die Gemeinde zu wenden. Thomas Mantinger stattdessen will nie Probleme mit Flüchtlingen gehabt haben. „Die meisten von ihnen wirken sehr freundlich, manche grüßen einen auch auf der Straße, obwohl man sie nicht kennt.“
Die wirklichen Probleme der Gegend sind aber andere. Zwar grüßen die leicht bekleideten Damen am Straßenrand auch sehr freundlich, aber dahinter stecken fast immer Ausbeutung, Zuhälterei und organisierte Kriminalität. Bisherige Versuche, die Freier abzustrafen und mehr Kontrollen durchzuführen, sind aber fehlgeschlagen. „Die Polizei hat gar nicht die Kapazitäten, über einen längeren Zeitraum hinweg die nötige Präsenz im Viertel zu haben“, erklärt Armin Widmann, der nun seit etwas mehr als einem Jahr im Amt ist. Seiner Meinung nach ist die einzige Möglichkeit, das Problem in den Griff zu kriegen, ein struktureller Wandel des Viertels: „Wenn die Straßen sauber und belebt sind, dann verziehen sich Kriminalität und Prostitution von selbst.“
Einen strukturellen Wandel herbeizuführen, den Bozner Boden zu einem belebten wie beliebten Viertel zu machen, ist aber nicht so einfach. Die nötigen Rahmenbedingungen müssen zwar von der Politik geschaffen werden, aber die Initiative müsste dann von Bürgern, privaten Investoren und Unternehmern selbst ausgehen. Auch Thomas Mantinger ist überzeugt, dass der Ruf des Viertels ein ganz anderer wäre, wenn es mehr Lokale gäbe, mehr Veranstaltungsräume, die vor allem auch junge Menschen hierher ziehen. „Schon das CinePlexx hat viel dazu beigetragen, die Gegend zu entdämonisieren“, meint Mantinger.
Und dann gab es da doch noch was, oder? Die Halle 28, Veranstaltungsort für Konzerte und Club-Abende, sowie Plattform für Bands aus dem Unterground: Sie musste im Oktober des letzten Jahres schließen, nachdem der Eigentümer das Gelände der Halle verkauft hatte, damit darauf ein Büro-Turm gebaut wurde. Aber schon vorher stand es nicht immer gut um die Halle 28. Dass einmal wegen einer manipulierten Soundanlage jegliche weitere Veranstaltung mit einer Verordnung des Bürgermeisters verboten wurde, war ein anschauliches Beispiel dafür, wie viel die Stadtgemeinde tatsächlich daran setzte, das Viertel zu beleben.
Eine enorme Fläche mit Möglichkeiten
In der neuen Stadtregierung versichert man hingegen, dass man die Dinge anders handhaben will. „Schon allein, dass man nur sagt, man werde etwas tun, ist viel“, sagt Armin Widmann mit Blick auf die Einstellung, die man in den letzten zwanzig Jahren zum Bozner Boden hatte. Das Erste, was demnächst geschaffen werden muss, ist laut Widmann eine bessere Anbindung zum Zentrum, insbesondere durch die Entstehung eines Fahrradweges. Die Realisierung eines solchen Fahrradweges steht aber noch in der Ferne. Stattdessen ist der Lärmschutzwall gegen die vorbeifahrenden Züge ein Vorhaben, das bald schon konkret umgesetzt wird. Eine gute Nachricht für jene Anwohner, deren Wohnungen sich unmittelbar neben den Gleisen befinden und die bisher Tag und Nacht dem Vorbeirattern der Züge ausgesetzt waren.
Aber es gibt noch eine bessere Nachricht. Das ganze Areal, das derzeit noch mit den vom Bahnhof abgezweigten Stumpfgleisen bedeckt ist, also eine enorme Fläche, liegt im Augenblick brach und hat keinerlei Funktion. Das soll sich bald ändern. Noch ist aber nicht ganz klar, wie die Fläche anderweitig genutzt werden soll. Möglicherweise ereilt sie das selbe Schicksal wie das Gelände, auf dem die Halle 28 stand. Um das zu verhindern, ruft Widmann die Bürger auf, die Gelegenheit, sich zu beteiligen, nicht zu verpassen: „Wer Vorschläge hat, der soll sich damit an den Stadtviertelrat wenden!“ Schließlich sei das auch die offizielle Funktion des Stadtviertelrats: die Vermittlung zwischen Bürgern und Gemeinde.
Spätestens mit dem Streit um das Benko-Projekt am Bahnhof wurden die Rufe nach mehr Bürgerbeteiligung lauter: Die Einwohner sollten die Stadt in die eigenen Hände nehmen und mit Kreativität und Weitsicht ihre Viertel selbst gestalten, anstatt die Sache irgendeinem Investor zu überlassen. Das verlassene Areal mit den Stumpfgleisen wird wohl zeigen, ob Bozen dazu in der Lage ist. Die Gelegenheit darf jedenfalls nicht verpasst werden. Dann könnte die größte Herausforderung – mehr Leben in das Viertel zu bringen – erfolgreich gemeistert werden.