Politics | Aus Palästina

Widerstand, waffenlos

Fast jeden Tag versuchen Palästinenserinnen und Palästinenser, ohne Waffen gegen die Besatzung zu kämpfen. In die Nachrichten schaffen sie es fast nie.
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Im Westjordanland liegt Gewaltlosigkeit im Auge des Betrachters.

Wenn die Dorfjugend von Ni’lin nach dem Freitagsgebet zwischen Ölbäumen und blühenden Kakteen ihre Steinschleudern ausprobiert, während ein paar Dutzend ältere Einwohner in der Mittagshitze Fahnen schwingen und Parolen skandieren, dann gilt dies hier als friedliche Kundgebung.

Ni’lin ist ein verschlafenes palästinensisches Dorf von ein paar Tausend Einwohnern direkt an der israelischen Sperranlage zum Westjordanland; in Ni’lin sagen sie ‚Mauer’ dazu, während die israelische Regierung sie ‚Sicherheitszaun’ nennt. Jeden Freitag wird hier demonstriert, seit 2008, da der Bau der acht Meter hohen Betonbarriere das Dorf von mehr als einem Viertel seiner landwirtschaftlichen Flächen abzuschneiden drohte.

Einer der Dorfbewohner, der mit seinen zwei Söhnen an der Kundgebung teilnimmt, bevor er zur Hochzeit seines Neffen eilt, sagt: „Meine Familie hat durch den Bau der Mauer 7 Hektar Land verloren, Olivenhaine, die jetzt für uns unzugänglich auf der anderen Seite liegen.“ Für ihn ist es eine friedliche Demonstration, „die Soldaten schießen Tränengas, die Jungs werfen Steine“, so sei das nun mal.

Die israelische Armee sieht das anders; für sie sind die meisten der wöchentlichen Kundgebungen „riots“, gewaltsame Zusammenrottungen. Demgemäß versuchen Spezialeinheiten mit Tränengas und Gummigeschossen, die Demonstranten in den Olivenhainen zu vertreiben. Scharfschützen zielen auf die Beine, fast jede Woche gibt es Verletzte. An diesem Freitag aber gehen nur ein paar dürre Sträucher durch das Tränengas in Brand auf.

Die wöchentliche Freitagsdemonstration in Ni’lin ist Teil dessen, was hier im Westjordanland „al-muqawama al-sha’biya“ genannt wird, des Graswurzelwiderstandes, der manchmal spontan, manchmal organisiert, aber immer unbewaffnet protestiert. Wenn auch ihre Bilder die Abendnachrichten fast nie erreichen, so gibt es doch fast täglich Kundgebungen und Proteste, die ohne Waffen auskommen.

Jamal Juma’, eine Art palästinensischer José Bové, ist einer der Anführer des Graswurzelbewegung „Stop the Wall“, die seit 2002 gegen den Bau der Grenzmauer aktiv ist. Auch für ihn ist eine Kundgebung gewaltlos, solange keine Waffen eingesetzt werden. „Es ist noch kein einziger Soldat von einem Stein getötet worden. Und in hunderten von unseren Demonstrationen ist kein einziger Schuss von unserer Seite gefallen. Aber wir demonstrieren hier nicht auf dem Trafalgar Square, und wir stehen keiner zahmen Polizei gegenüber. Wir haben es mit einer militärischen Besatzung zu tun, einer voll ausgerüsteten Armee, die auf uns schießt. Was sollen wir also den Kids sagen, wenn sie Steine werfen?“

Juma’ hat sich bewusst dafür entschieden, unbewaffnet gegen die Besatzung zu demonstrieren, er hat schon in der ersten Intifada zwischen 1987 und 1993 den Graswurzelwiderstand mitorganisiert. Die Bilder, auf denen Jugendliche Steine auf israelische Panzer werfen, sind für ihn immer noch aktuell. Ganz anders die zweite Intifada zwischen 2000 und 2005, als die Hamas und andere bewaffneten Gruppen anfingen, Selbstmordattentate zu verüben. “Danach gab es keinen Platz mehr für den unbewaffneten Widerstand, und der Konflikt wurde völlig militarisiert, was ein schlimmer Fehler war.“ Auch in diesem Sommer haben die Kämpfe in Gaza eine eigentlich geplante Mobilisierungskampagne seiner Organisation verhindert.

Was die unbewaffnete Protestbewegung auszeichnet, ist der Umstand, dass israelische Aktivisten gemeinsam mit Palästinensern demonstrieren, so auch an diesem Freitag in Ni’lin. Kobi Snitz, ein Mathematiker aus Tel Aviv, kommt fast jeden Freitag zu einer der Kundgebungen ins Westjordanland. „Es ist unsere Pflicht“, sagt er, „hier zu sein“, als Unterstützung und Schutzschild für die Demonstranten, weil die Einsatzbefehle der Soldaten andere seien, wenn Israelis unter den Demonstrierenden sind.

Der unbewaffnete Widerstand ist zahlenmäßig schwach, genauso wie die Unterstützer aus Israel, die eine kleine Minderheit der Gesellschaft ausmachen. Nachdem aber immer mehr Beobachter eine dritte Intifada prophezeien, wäre es von großer Bedeutung, ob sie den unbewaffneten Kundgebungen folgt, oder, wie schon in der zweiten Intifada, in die militärischen Eskalation führt. Einer der Bewohner von Ni’lin meint, „nach den vielen Toten in Gaza sind die Menschen wütend, und viele würden sofort zu den Waffen greifen, wenn sie denn welche hätten.“ In der Tat belegen Meinungsumfragen, dass das eigentlich lädierte Ansehen der Hamas seit den Kämpfen im Gazastreifen gestiegen ist. Aber, so fügt er hinzu, „wenn wir hier anfangen würden zu schießen, würde uns die israelische Armee nach höchstens einem Jahr erledigen. Unbewaffnet, mit unseren Demos, halten wir 10 Jahre und noch länger durch.“

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Oskar Egger Thu, 08/28/2014 - 08:13

Satyagraha ist immer groß. Dennoch wage ich hier die Gelegenheit wahrzunehmen und zu sagen, dass wir keine Ahnung davon davon haben, welches Dasein ein demokratischer Staat in diesem Erdengebiet hat. Solange wir nicht vermögen, tragfähige Mittel gegen den Terror zu erdenken, dürfen wir über die israelische Politik nicht urteilen.

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