Society | Interview

„Nicht vergessen, aber verzeihen“

Literaturwissenschaftlerin Irene Kacandes beschäftigt sich mit den psychologischen Folgen von Kriegen und Traumata. Die Summer School greift mit ihr diese Themen auf.
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Foto: Florian Dariz
Irene Kacandes war als Kind mit Folgen des Zweiten Weltkriegs konfrontiert, die selten angesprochen werden: Ihr Vater war zwölf Jahre alt, als sein Heimatland Griechenland 1941 von den deutschen, italienischen und bulgarischen Truppen besetzt wurde. In ihrer Kindheit und Jugend in den USA zeigte er Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die Verarbeitung ihrer familiären Vergangenheit hat sie in dem 2009 erstmals veröffentlichten Buch „Daddy’s War“ festgehalten.
 
salto.bz: Der Schwerpunkt der heurigen Summer School Südtirol ist ‚Trauma & Drama‘. Was hat Schreiben mit der Aufarbeitung von Traumata zu tun?
 
Irene Kacandes: Kunst im Allgemeinen kann helfen, Traumata aufzuarbeiten. Es gibt sehr viele Kunsttherapien. Aber auch professionelle Künstler, Dramatiker und Wissenschaftler können über traumatische Situationen schreiben. Die Forschung zum Holocaust und dem Hass gegen Juden ist wichtig, um zu verstehen, wie Antisemitismus in der Gesellschaft verbreitet wurde. So wenige Leute hatten mit Juden zu tun, trotzdem gab es einen weitverbreiteten Antisemitismus in Deutschland. Wir wissen jetzt, wie sich Hass in einer Gesellschaft ausbreitet. Wenn wir diese Vorzeichen von Hass erkennen und dieses Wissen an junge Menschen weitergeben, können sie frühzeitig einen anderen Weg einschlagen. 
 
 
Wie kann sich eine posttraumatische Belastungsstörung zeigen?
 
Es gibt eine lange Liste von Symptomen. Beispielweise interessieren sich Menschen nicht mehr für soziale Beziehungen, haben Schlafstörungen oder erleben Rückblenden. Es kann auch sein, dass sie sich sehr unglücklich fühlen oder sich gar nicht mehr an das Trauma erinnern.
 
Gibt es auch Situationen, die Personen triggern und sie sich wieder an das Trauma erinnern?
 
Ja, die Situationen können durch Gerüche, Geräusche, Farben oder Gegenstände wie ein Auto triggern.
Kriege stiften unheimlich viele Traumata an.
In einer schnelllebigen Gesellschaft wie der westlichen können Traumata leicht untergehen. Wie könnte man ihnen trotzdem Raum zur Aufarbeitung geben?
 
Es gibt zwei Ebenen, um Ihre Frage zu beantworten. Auf der persönlichen Ebene kann es an dem Trauma selbst liegen, dass man Angst davor hat, an diese Situation zu denken und es daher nicht verarbeiten kann. Ich glaube aber nicht, dass es zeitliche Gründe sind, die die Aufarbeitung verhindern. Es könnte eher sein, dass man sehr beschäftigt ist, weil man nicht daran denken möchte. Die zweite Ebene betrifft die Gesellschaft, etwa die Frage, ob und wie sie einen Krieg aufarbeiten möchte. Es ist eine politische Frage, ob man einen Krieg in der Öffentlichkeit thematisiert. In den USA verdrängt man beispielsweise gerne den Vietnam-Krieg, obwohl Generationen später Menschen noch darunter leiden. Deutschland ist ein ganz anderes Beispiel, denn die Deutschen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten gezwungen, sich mit dieser Zeit auseinanderzusetzen. Zweitens haben sie sich aber als Gesellschaft entschieden, nicht ohne die Verarbeitung nach vorne schauen zu können. Natürlich gibt es Gruppen innerhalb der Gesellschaft, die sich gar nicht damit auseinandersetzen wollen oder sich gegen diese öffentliche Diskussion stellen. Im Ganzen würde ich aber sagen, dass Deutschland es besser als viele andere Länder verkraftet hat.
Es ist wichtig, die Menschen selber zu fragen, wie wir helfen können und nicht davon auszugehen, dass wir es schon wissen.
Wie ist es mit familiären Traumata, wo Menschen Gewalt erleben?
 
In Familien gibt es das Problem, dass Kinder im jungen Alter ihre Eltern brauchen. Wenn sie Formen der Gewalt wie eine Vergewaltigung erlebt haben, fehlt ihnen oft die Sicherheit oder das Vokabular, es zu erzählen. Wenn man älter wird, hat man die auch unbewusste Erinnerung an die Zeit, als man so abhängig von den Eltern war. Es gibt eine bekannte Fallstudie von einem Mann, der bei einem Jagdunfall ein Bein verloren hat. In der Psychotherapie kam heraus, dass der Verlust seines Beines für ihn so schlimm war, weil er sich daran erinnerte, wie er als Kind nicht eingreifen konnte, als sein Vater seine Mutter schlug. Als er älter wurde, waren seine Beine ihm sehr wichtig, weil er sich dann gegen diesen Vater wehren konnte.  Er konnte gar nicht akzeptieren, dass er ein Bein verloren hatte. Viele Frauen bleiben in einer Beziehung mit einem gewalttätigen Mann, weil sie nicht wissen, wie sie ihr Leben finanzieren können. Kommt es zu Gewalt an Kindern, kann es auch passieren, dass die Mutter die Gewaltsituation nicht erkennt oder sich selbst hilflos fühlt. Ich will aber nicht verallgemeinern, da jede Situation spezifisch ist.
 
Kann man Traumata vollständig heilen?
 
Absolut. Es gibt viele Menschen, die eine traumatische Situation erlebt haben und durch ihre tolle Widerstandskraft aber gar nicht traumatisiert davon werden. Wenn jemand traumatisiert wurde, kann er durch die Unterstützung von Freunden oder professionell ausgebildeten Menschen im Laufe der Zeit die zuvor genannten Symptome zurücklassen. Es gibt viele Holocaust-Überlebende, die ein reiches und schönes Leben geführt haben.
Es braucht eine politische Entscheidung, die Gewaltspiralen zu stoppen.
Wie erkennen wir Gewaltsituationen psychischer oder physischer Natur und wie können wir etwas dagegen tun?
 
Es ist wichtig, traumatisierte Menschen nicht nur im Alltag zu unterstützen, sondern ihnen auch zuzuhören. Ich gebe Ihnen ein gutes Beispiel. Eine Gruppe von Schweizern baute eine Organisation auf, um den Flüchtlingen aus Syrien in Griechenland zu helfen. Sie haben eine wichtige Entscheidung getroffen, indem sie die Menschen im griechischen Lager ihre eigene Geschichte erzählen ließen. ‚Was ist Ihnen passiert? Wollen Sie darüber reden? Wenn ja, dann hören wir Ihnen sehr gerne zu.‘ Sie haben aber auch die Frage gestellt, was sie brauchen. So erfuhren sie von den Frauen im Lager, dass sie gerne einen Raum hätten, wo sie nur unter Frauen sind. Die Gruppe organisierte dann einen Raum im Lager, wo nur Frauen und ihre kleinen Kinder eingelassen wurden. Es ist wichtig, die Menschen selber zu fragen, wie wir helfen können und nicht davon auszugehen, dass wir es schon wissen.
 
Kann die Gewaltforschung zur Schaffung von Frieden beitragen?
 
Es gibt noch sehr vieles in der Gewaltforschung, das wir noch nicht wissen. Wenn zum Beispiel zwei Menschen dasselbe erleben und die eine Person traumatisiert wird und die andere nicht. Warum ist das so? Warum hat die eine Person mehr Widerstandskraft als die andere? Es gibt auch Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die wir noch nicht vollständig erklären können. Zudem ist es sehr wichtig, das Wissen der Gewaltforschung weiterzutragen, um anderen Menschen in schwierigen Situationen eine Hilfestellung zu bieten, beispielsweise Strategien in der Psychotherapie. Wie Monika Hauser auch in der Summer School betont hat, braucht es genügend Fachkräfte in einem Land, wo es einen Krieg gibt oder gegeben hat, wie z.B. in Afghanistan. Wir müssen mit allem, was wir haben, gegen Krieg ankämpfen. Kriege stiften unheimlich viele Traumata an. Gegen die Naturkatastrophen, die wir mit der Klimakrise immer mehr haben werden und die auch Traumata verursachen, können wir weniger direkt tun. Aber wenn wir weniger Kriege haben, gibt es weniger traumatisierte Menschen auf der Welt und mehr Frieden.
 
 
In Konflikten kommt es durch Racheakte aber oft zu Gewaltspiralen.
 
Ja, die gibt es häufig, beispielsweise beim Ex-Jugoslawien-Krieg. Es braucht eine politische Entscheidung, die Gewaltspiralen zu stoppen. Eine gute Freundin von mir aus Barcelona sagte, dass sie den Bruderkrieg in Spanien nicht vergessen dürfen, aber sie müssen verzeihen, sonst gibt es keine positive Entwicklung nach vorne.
 
Wo und wie sind Sie aufgewachsen? Wie hat Sie Ihr Vater geprägt?
 
Ich wurde in den USA, in einem Vorort von New York City geboren. Meine beiden Elternteile sind im besetzten Griechenland aufgewachsen. Mein Vater wurde 1929 geboren und er war noch recht jung, als der Krieg begann. Er hat seine Kriegserlebnisse nie richtig verarbeitet und zeigte viele Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Er war relativ gewalttätig, hat nicht gut geschlafen und möglicherweise hatte er auch Rückblenden. Das ging in uns Kinder über, ich zum Beispiel war sehr ängstlich. Ich musste das verarbeiten und Gott sei Dank hatte ich die Möglichkeit, zu erforschen, was ihm im Krieg passiert ist, Interviews mit meinem Vater zu führen und ein ganzes Buch über ihn zu schreiben. Dieses Buch hat mir sehr geholfen, eine andere neue, friedlichere und liebevollere Beziehung mit meinem Vater zu führen. Es half auch meinen Geschwistern und meine Hoffnung war immer, dass es auch anderen Menschen, die uns gar nicht kennen, dabei hilft, ihre eigenen Familiengeschichten und Traumata zu verarbeiten.