Culture | Salto Afternoon

Ja, nu. – Beim Winter in die Lehre

Das Unterengadin zwischen Rausch und Ernüchterung. Den Winter literarisch austreiben zu Frühlingsbeginn. Ein Gastbeitrag von Selma Mahlknecht aus "Kulturelemente" [#157].
Titelbild
Foto: Kulturelemente

Das erste Mal so richtig sah ich sie im Saal des Hochalpinen Instituts in Ftan. Während wir die schwindelerregenden Serpentinen hinaufgefahren waren, hatte ich mich auf den bevorstehenden Auftritt vorbereitet und es ängstlich vermieden, über den Straßenrand hinauszuschauen. Jetzt aber stand ich auf festem Grund und sah durch die breite, in dunkles Holz gefasste Fensterfront das Panorama der Unterengadiner Dolomiten. Weiß, prächtig, imposant. Ich fühlte mich beglückt wie jemand, der ganz unerwartet ein Geschenk erhält, von dem er nicht wusste, dass er es sich schon immer gewünscht hat. Dabei lebte ich zu dem Zeitpunkt schon seit sieben Jahren im Engadin. Dass es hier schön ist, war nun wirklich keine Neuigkeit mehr für mich. Ganz im Gegenteil, ich hatte geglaubt, mich schon auf eine gewisse Art satt gesehen zu haben, auch wenn mir die fliegende Felsenburg von Ardez oder der nächtlich glühende Kirchturm von Sent noch immer den Atem verschlugen, wenn ich daran vorbeifuhr.

Der Tourismus ist zwar nicht völlig zum Erliegen gekommen, aber er ist leiser geworden, und die Angebote sind zwar vielfältig, aber recht verstreut, manchmal geradezu versteckt.

Die stillen Dörfer des Unterengadins, versteckt in den Falten der Berge, wirken mit ihren bunten Hausfassaden, den murmelnden Brunnen und engen Gässchen wie aus der Zeit gefallen, fast museal, erst recht, wenn man auf dem Streifzug kaum auf Leute trifft. Das kann mitunter einen Eindruck von Trostlosigkeit vermitteln – der meist auch bestehen bleibt, wenn man sich Stärkung suchend in eine Gaststätte begibt. Die Atmosphäre ist oft kühl, geschäftlich, die hohen Preise und die allzu funktionalen Möbel laden nicht zum Verweilen ein. Gemütliche Cafés mit Sesseln und Sofas, in denen man sich fläzen, ein Getränk und einen kleinen Snack genießen und nebenbei gediegen in Zeitungen und Magazinen blättern kann, sucht man meist vergebens. In dieser Hinsicht kann „La Bassa“ daher nur bedingt mit dem „großen Bruder“, dem prachtstrotzenden (und oft allzu protzigen) Oberengadin, mithalten. So richtig „pachific“, wie das vielzitierte Lieblingswort vieler Sehnsuchtsengadiner lautet, haben es die Menschen hier offenbar nur in der eigenen guten Stube. Für alle Übrigen muss das Unverbindlich-Hölzerne reichen, eventuell noch patiniert vom stumpfen Glanz besserer Tage. Die Zeiten, in denen zahlreiche Kurgäste (nicht nur) aus den umliegenden Regionen die angeblich heilkräftigen Quellen aufsuchten, um sich eimer- und fässerweise gesundzutrinken (so mancher Tiroler soll dabei geplatzt sein), sind vorbei. Der Tourismus ist zwar nicht völlig zum Erliegen gekommen, aber er ist leiser geworden, und die Angebote sind zwar vielfältig, aber recht verstreut, manchmal geradezu versteckt. Ein eigenwilliges Museum in Susch, dessen Architektur fast mehr in den Bann zieht als die ausgestellten Kunstwerke. Salzhaltige Brunnen in Scuol, an denen mein Hund nicht mehr aufhören wollte zu trinken. Ein zauberhafter Schlittschuhweg mitten im Wald, der wie ein gotischer Dom in den Himmel greift. Wer in diese Landschaft eintaucht, findet durchaus Perlen. Aber nur der seltenen Perlen wegen bleibt man nicht hier. Wer einen Sinn für Energiefelder und Ausstrahlung hat, der spricht von Kraftorten und Resonanzen, dem prickelt vielleicht auch die Champagnerluft auf der Zunge, und ohne den Hinweis auf das ganz besondere Licht kommt man nicht davon. Das Engadin zieht Poeten an, feinnervige, spirituell Suchende, Menschen, die Schwingungen spüren und das Göttliche, die sich für das große Ganze öffnen wollen oder einen Ausweg suchen aus der viel zu schweren Schwere hinaus ins Freie, Leichte. Es ist eine pikante Mischung von Abseitigkeiten, die hier zusammenfinden, oft unvereinbar und sogar im starken Kontrast. Handaufleger und Kräuterschamanen, Burnout-Klinik und modernste medizinische Technologien, evangelikale Gebetskreise, vorchristliche Rituale, philosophische Zirkel – was alle vereint, ist die bewusste Entscheidung für die randständige Lage, die Verschiebung des Schwerpunkts weg von der Geschäftigkeit der Welt hin zum Inneren. Tatsächlich hat das Engadin in der Schweiz einen ganz besonderen Stellenwert, ist für viele ein Sehnsuchtsort, magisch und verrätselt, nicht nur wegen der alles dominierenden Naturgewalt, sondern auch wegen der altertümlich raunenden Idiome der Rätoromanen, die einerseits als besonders urig, andererseits aber auch als doch nicht ganz zugehörig empfunden werden. Die Faszination dieser reizvollen Exotik treibt viele hierher, die ein bisschen verloren gehen wollen, um sich danach umso mehr wieder zu finden. Und gibt es ein schöneres Verlorengehen als jenes im Staunen? Auch mich ergreift das Erlebnis von unerwarteter Schönheit immer wieder. Aber meine Sinne sind einfacher, vielleicht auch gröber strukturiert. Manche Schönheiten trage ich beiläufig auf meinen Spaziergängen mit, und wer weiß wie viel pulverfeinen Zauberstaub ich schon achtlos von meinen Stiefeln geklopft habe. Der Alltag lässt sich auch schwerlich bestreiten, wenn man auf Schritt und Tritt vom Anblick der Landschaft überwältigt wird. Und doch: Hier zu leben, bedeutet, der Natur jedes Mal aufs Neue wie zum ersten Mal zu begegnen. Bei nächtlichen Fahrten über den Ofenpass sieht man mehr Gämsen, Füchse, Hirsche und Hasen als andere in einer Wandersaison. Oft verdreht man sich halb den Kopf nach den schwebenden, rüttelnden, jagenden Vögeln in der Luft. Steinadler, die sich kreisend in den Himmel schrauben. Bartgeier, die lautlos über die Baumwipfel gleiten.

Der Frühling kann sich seinen Klauen lange nicht entziehen, bis in den Mai, sogar in den Juni können die Temperaturen sehr tief sein, kann es jederzeit wieder schneien.

Dunkle Wolken von Alpendohlen, die die Stille des Winters mit ihrem Girren und Zirpen erfüllen. Überhaupt der Winter. Als Untervinschger Talkind hab ich ihn nicht im Blut. Er beißt mir in Ohren, Wangen, Zähne, Fingerspitzen und Zehen. Aber ich habe meine Wehleidigkeit zumindest ein bisschen abgelegt. An die heitere Gleichmütigkeit, gar an die oft feierliche Hochstimmung, mit der die Engadiner den Winter schultern, reiche ich freilich nicht heran. Wenn die Sonne die weißen Felder, Wälder und Höhen in glitzernde Märchenlandschaften verwandelt, hält es kaum jemanden im Haus. Zwischen krachendem Eis und samtigem Pulverschnee tollen die Kinder herum, ziehen die Erwachsenen auf Skiern und Schlittschuhen ihre Bahnen. Und wenn stunden-, ja, tagelang Schnee in dichten, nicht endenden Strömen fällt und Garageneinfahrten, Zäune und Straßen unter der weißen Last versinken, nehmen es die Engadiner mit einer heiteren Gelassenheit, die mir nach wie vor bewundernswert erscheint. Das Piepsen der Räumungsgeräte, das Rattern der Schneefräsen, das Schaben der Schaufeln sind dann die einzigen Geräusche, die man vernimmt. Früher bin ich davon noch aufgewacht, wenn um fünf Uhr morgens der Schneepflug vorbeifuhr. Mittlerweile dämpfen die wattigen, weißen Polster auch meine Träume, und ich schlafe nie besser als in einer schneereichen Winternacht. Und derer gibt es viele. Der Winter ist die alles dominierende Jahreszeit, der Referenzwert für alles andere. Der Frühling kann sich seinen Klauen lange nicht entziehen, bis in den Mai, sogar in den Juni können die Temperaturen sehr tief sein, kann es jederzeit wieder schneien. Umso wertvoller ist jeder milde Sonnentag, umso gieriger stürzt man sich auf jeden zarten Krokus und jede pelzige Küchenschelle im dürrgelben Gras. Der Sommer dann ist ein kurzer Rausch aus Farben, Duft und Vogelstimmen, ein flüchtiger Traum, der sich anfühlt wie ein verlängertes Wochenende. Und dann kommt der lange Herbst, golden, warm und dunkel tönend wie Alphörner, ein sanftes Gleiten in milde Schatten, zart gesprenkelt vom ersten Schnee. Aber auch am heißesten Julitag ist der Winter nie weit weg. Er steht sozusagen gleich hinter der Tür, bereit für einen kurzen, effektvollen Auftritt oder einen bedeutungsvollen Monolog. Bei diesem Winter kann man in die Lehre gehen, er beherrscht alle Kniffe des Handwerks und bespielt das Tal virtuos wie kein anderer. Man muss ihn nicht immer lieben, diesen Winter, der einem die zweihundert geheimen Deklinationen der Kälte gegen die Stirn hämmert, man muss nicht jedes Mal gerührt nach Luft schnappen, wenn die weißen Weiten des Tales und des Himmels ununterscheidbar verschwimmen, man darf auch mit den Augen rollen, wenn schon wieder irgendwer „Winterwunderland“ sagt (und es sagt ständig irgendwer „Winterwunderland“) – aber man kann sich mit ihm versöhnen. Wenn man ihn lange genug kennt, gewinnt man ihn lieb wie einen schrulligen Onkel, der immer dieselben Geschichten erzählt und ein bisschen zu lange braucht, um zur Pointe zu gelangen. Wenn es im März noch immer gleich weiß und eintönig ist wie im Dezember, wenn im April noch immer kein Grün winkt, wird das Warten so trocken und zäh wie ein verschrumpelter Apfelschnitz, bis man es ganz verlernt. Fast scheint es, als hätte uns der lange Engadiner Winter auf die seltsam ungleichförmige Gleichförmigkeit des Corona-Lockdowns eingestimmt. Tage, die einander ähneln, Zeit, die stillzustehen scheint, während doch alles im Fluss ist und unser Herz weiterhin rasend das Blut durch unseren Körper pumpt und unsere Zeit vergeht. Seit wir hier wohnen, gab es fast jedes Jahr ein paar Tage, an denen wir eingeschneit waren. Stille, Stillstand, nur das dumpfe Donnern der Lawinensprengungen in der Ferne. Es waren kleine Vorübungen, Etüden der Unberechenbarkeit. Die Pässe sind gesperrt, wir kommen nicht weg. Was geplant war, verstreicht unausgeführt. Wer sich hier verrückt machen lässt, gegen die Elemente anbrüllen und sein angebliches Recht ertrotzen will, kann sich mit einem Kopfsprung in den Tiefschnee abkühlen. Hier geht es nicht raus. Such dir andere Fluchten. Im Engadin hat die Reaktion auf die Unumstößlichkeit der Realität zwei Silben: „Ja, nu.“

Vielleicht ist das Geheimnis des Unterengadins die Mischung aus der Nüchternheit eines allzu oft rauen, unscheinbaren Alltags und der plötzlich hereinbrechenden Pracht, die einen immer wieder ganz unvorbereitet trifft.

Man spricht es mit einem freundlichen Achselzucken, abgeklärt. Kann man nichts machen, ist nun mal so. Außerhalb des Engadins hingegen sorgen die für manche offensichtlich unvorstellbaren Gegebenheiten und Nebenwirkungen dieses übergroßen Winters immer wieder auch für Unmut oder zumindest Unverständnis. Dass man im März wegen der gefährlichen
Straßenverhältnisse nicht zum vereinbarten Termin anreisen kann, dass man die Familienfeier sausen lässt, dass man seinen eigenen Auftritt verpasst – unerhört. Wir wurden oft mit Ungläubigkeit und Vorwürfen konfrontiert, wenn wir mit Bedauern, aber auch mit Bestimmtheit absagen mussten. Wo ein Wille, da ein Weg, trompetete es uns entgegen. Aber die Wirklichkeit hält sich nicht an wohlfeile Redensarten. Spätestens seit der Pandemie sollte sich das jetzt endgültig herumgesprochen haben. Vielleicht ist das Geheimnis des Unterengadins die Mischung aus der Nüchternheit eines allzu oft rauen, unscheinbaren Alltags und der plötzlich hereinbrechenden Pracht, die einen immer wieder ganz unvorbereitet trifft. Als ich damals unerwartet im Angesicht der Unterengadiner Dolomiten stand, abrupt herausgerissen aus all meinen Kontexten, atmete ich einige Atemzüge lang tiefer, genüsslicher, dankbarer. Dann packte ich den kostbaren Moment vorsichtig in Seidenpapier für spätere, dunklere Tage, wandte mich wieder meiner Arbeit zu und dachte: „Ja, nu.“