Bürgerräte immer beliebter
Was sind Bürgerräte?
Eine Art länger tagende Bürgerversammlung zu aktuellen Fragen einer Gemeinde oder eines Landes? Nicht ganz. Es geht um eine eher kleine Zahl von zufällig ausgewählten Bürgern, die kurze Zeit (auch mehrere Treffen) zu einem aktuellen Problem beraten, Lösungsvorschläge verabschieden und öffentlich vorstellen. Die Politik muss diese Vorschläge nicht zwingend übernehmen, aber zumindest in ihren Entscheidungen berücksichtigen. Ein Bürgerrat erlaubt es, einfache Bürgerinnen an politischen Entscheidungsprozessen teilhaben zu lassen, in direktem Kontakt mit Politikern, Expertinnen und Verbandsvertretern.
Die Auswahl erfolgt in geschichtetem Losverfahren, somit repräsentativ für die Bevölkerung nach Geschlecht, Alter, Bildungsgrad, Herkunftsort. Der Rat der 100 des Autonomiekonvents 2016/17 war im Grunde ein komplexer Rat dieser Art. Seine Empfehlungen sind in die Diskussion des Konvents der 33 eingeflossen. Doch zeigt sich hier auch schon einer der Schwachpunkte von Bürgerräten: die Ergebnisse sind in keiner Weise für die gewählten Organe verbindlich und wie beim Autonomiekonvent kann es am Ende lauten: außer Debattieren nichts gewesen.
Warum nun dieser Hype um die Bürgerräte? Warum fordern immer mehr Menschen Bürgerräte? „Wo die Spaltung und Gräben zwischen den Menschen immer tiefer werden, wirkt ein Rat mit Menschen aus der gesamten Bevölkerung geradezu erlösend,“ schreibt Claudine Nierth (Mehr Demokratie, Nr.2-2020), Bundessprecherin von Mehr Demokratie e.V. Man sehne sich nach einem Ort, an dem sich Andersdenkende begegnen, zuhören und gemeinsam aufs große Ganze schauen können (hoffentlich nicht nur online!). Die Teilnehmenden kommen nicht als Vertreter von Parteien oder Interessengruppen, sie müssen keine Lobby vertreten, können als ganz normale Bürger und Bürgerin mitdiskutieren. Sie stellen sich in den Dienst der Sache, werden zwar durch Experten beraten, sollen dann ganz eigenständig einen Konsens finden. Am Ende kann über Vorschläge auch abgestimmt werden. Bürgerräte können auch als Vorbereitung von Volksabstimmungen dienen, wobei allerdings geklärt sein muss, wer mit welcher Legitimation seitens der Wählerschaft eine solche Abstimmung einleiten kann.
Vorbild irische "Citizens' Assembly"
Vorbild der neuen Bürgerräte ist die irische Citizens' Assembly bzw. deren Vorläuferin Constitutional Convention, deren Vorschläge zur Ehe für gleichgeschlechtliche Paare und zum Abtreibungsrecht in Referenden breite Mehrheiten fanden. 2017 hielt Irland einen Bürgerrat zum Klimawandel ab, der weitreichende Maßnahmen zum Klimaschutz empfahl. Die Mitglieder der Citizens Assembly stimmten zu 80 Prozent oder mehr für 13 Empfehlungen zum Klimawandel. Dazu gehörten auch die Erhöhung der irischen CO2-Steuer und der Besteuerung der Treibhausgasemissionen aus der Landwirtschaft, die in Irland am meisten klimaschädliche Gase verursachen. Mitte 2019 mündete die Arbeit der Bürgerversammlung in einen Klimaaktionsplan, mit dem Irland seine Emissionen zwischen 2021 und 2030 um 30 Prozent senken will. Vorarlberg hat allerdings schon seit 2006 mindestens 35 Bürgerräte meist auf kommunaler Ebene abgehalten. Das Verfahren ist in seiner Landesverfassung verankert worden, weshalb das Ländle als „Mekka des Bürgerrats“ auf Gemeindeebene betrachtet wird.
Der Klima-Bürgerrat in Frankreich
Im Oktober 2019 hat Präsident Macron einen nationalen „Klima-Bürgerrat“ einberufen. 150 Mitglieder, repräsentativ für die Bevölkerung, haben bisher an sechs Wochenenden in Paris getagt. Das letzte Treffen Anfang April 2020 musste wegen der Corona-Pandemie verschoben werden. Das Ziel: Vorschläge zu formulieren, wie Frankreich seine Treibhausgasemissionen bis 2030 um 40% reduzieren kann. Präsident Macron hat versprochen, die Wählerschaft in einem Referendum über die Empfehlungen der „Citoyenne“ abstimmen zu lassen. Außerdem sollen Bürgerräte zur ständigen Einrichtung werden und sich auch mit anderen Themen befassen. In Frankreich kann allerdings nur der Präsident eine Volksabstimmung ansetzen. Das bedeutet, Macron wird entscheiden, ob es bei irgendeiner Empfehlung des Klima-Bürgerrats zum Volksentscheid kommt.
Bürgerrat in Deutschland
In Deutschland hatten die Initiative „Mehr Demokratie“ und die Schöpflin Stiftung 2019 den ersten gelosten bundesweiten Bürgerrat zum Thema Demokratie gestartet. Im September 2019 berieten 160 ausgeloste Bürgerinnen und Bürger aus dem ganzen Land über Ideen zur Verbesserung der Demokratie im Land. Dabei sprachen sie sich u.a. für bundesweite Volksabstimmungen, ein Lobbyregister und die Institutionalisierung von Bürgerräten aus. Die Deutsche Gemeinschaft Ostbelgien, eine autonome Region in Belgien, hat mit ihrem Gesetz vom Februar 2019 eine Innovation gewagt und den permanenten Bürgerrat eingeführt, der im März 2020 gestartet ist.
Bürgerräte auch in Südtirol?
In Südtirol gibt es bereits das gesetzlich geregelte Recht der Wahlberechtigten, einen Bürgerrat einzuberufen. 300 Bürger können das mit ihrer beglaubigten Unterschrift verlangen. Dann muss der Landtag eine solchen Rat (mindestens 12 Teilnehmende, 1,5 Tage) ausrichten. Noch haben sich zu keiner Frage 300 Bürger gefunden, die ein solches Beratungstreffen zu einer landespolitischen Frage herbeiführen und unverbindliche Vorschläge an den Landtag erstellen wollen. Weil die heutige Regelung der Bürgerräte (L.G. Nr. 22/2018, Art. 17-22) zu wenig bürgerfreundlich geregelt erscheint, will die Initiative für mehr Demokratie in diesem Herbst einen neuen Anlauf für die Einführung eines robusteren Verfahrens von landesweiten Bürgerräten wagen. Darüber hinaus soll sich ein erster, mit demselben neuen Landesgesetz einzuberufender Bürgerrat mit dem Klimawandel befassen und Vorschläge zu Maßnahmen zum Klimaschutz auf Landesebene erarbeiten. Dadurch würde gleich allen klar, was ein Bürgerrat leisten kann. Man kann gespannt sein, ob der Vorschlag der INITIATIVE von einer Mehrheit unterstützt wird.
Zum Thema Bürgerrat bietet Mehr Demokratie e.V. wöchentlich eine Webinar-Reihe, kostenlos und offen für alle. Anmeldung hier. Hintergrund: Bürgerräte weltweit