Wahlkampf zu Ferragosto?
Italien hat acht Millionen Arbeitslose und fast fünf Millionen Arme. Die Staatsverschuldung beträgt 2260 Milliarden. Während Deutschland, Spanien oder Frankreich in den letzten 15 Jahren um über 20 Prozent gewachsen sind, ist Italien das Land mit der weitaus geringsten Wachstumsrate geblieben. Die Zahl der Migranten steuert auf einen neuen Rekord zu. Die Bankenkrise harrt noch immer einer Lösung.
All das vermag Italiens Parteien offenbar kaum zu irritieren. Für sie gibt es dringlichere Probleme. Allen voran das neue Wahlrecht, das die Politik seit Monaten intensiv beschäftigt. Das wird sich auch in kommenden Wochen nicht ändern. Im Verfassungsausschuss des Senats haben sich dazu 31 Gesetzentwürfe angehäuft. Um den mahnenden Staatspräsidenten Mattarella nicht weiter zu irritieren, hat eine Mehrheit im Ausschuss nun für das "Rosatellum" plädiert, eine nach PD-Sekretär Rosato benannte Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht. Jeder weiss freilich, dass dieser Gesetzentwurf schon bald mit dem üblichen "maxi-emendamento" gekippt und durch einen neuen ersetzt wird.
Daran bastelt derzeit eine unheilige Allianz zwischen Matteo Renzi und Silvio Berlusconi.Beide haben identische Interessen: sie wollen Neuwahlen Ende September erzwingen.
Beide peilen ein Verhältniswahlrecht an, das sie al "modello tedesco" bezeichnen, das jedoch mit dem deutschen Wahlrecht reichlich wenig zu tun hat. Beide wollen die lästigen Kleinparteien durch eine Fünf-Prozent-Sperrklausel ausschalten. Für Renzi ist dabei vor allem die Aussicht verlockend, als Vorsitzender der stärksten Partei automatisch zum Regierungschef aufzusteigen. Eine Neuauflage des Patto del Nazareno könnte jedoch viele PD-Wähler irritieren und stösst auch parteiintern auf Widerstand, etwa bei Prodi, Delrio und Orlando, um nur einige zu nennen. Politisches Hasardspiel freilich jedoch gehört zu den Leidenschaften Renzis.
Bereits am Montag wird sich Renzis Delegation mit Forza Italia, aber auch mit dem M5S treffen. Am Dienstag treffen sich Renzi und Berlusconi zu einem Gespräch. Die Fünfsterne-Bewegung verzichtet seit einiger Zeit darauf, ihr übliches Mantra zu wiederholen, dass jede Koalition für sie undenkbar sei. Das Verhältniswahlrecht entspricht nicht unbedingt ihrem Wunsch, aber die Sperrklausel könnte sich auch auf die Grillini positiv auswirken, weil sie einer ganzen Reihe von Kleinparteien den Weg ins Parlament versperrt. Grillo will die Basis nun über den Vorschlag abstimmen lassen, fordert jedoch zusätzlich einen Mehrheitsbonus für die stärkste Partei.
Als Partner des M5S könnte sich Lega-Chef Salvini anbieten, mit dem Berlusconi kein Bündnis mehr eingehen will. Salvini und Grillo haben vieles gemeinsam: beide lieben populistische Sprüche, stehen der EU und dem Euro kritisch gegenüber und wollen der Migration Einhalt gebieten.
Am 5. Juni soll in der Kammer die Debatte über das neue Wahlrecht beginnen. Das steht fest. Alles Weitere bleibt ungewiss. Um im September zu wählen, müsste das Parlament bis Ende Juli aufgelöst werden und der Wahlkampf zu Ferragosto beginnen. Eine für Italien sicher ungewohnte Vorstellung.
Doch was in Kammer und Senat in den kommenden Wochen passieren wird, ist freilich nur bedingt vorhersehbar. Die Kleinparteien könnten aus Protest gegen die Sperrklausel die Arbeiten durch massive Obstruktion behindern. Der Staatspräsident wiederum ist keineswegs angetan von der Idee, das Parlament vorzeitig aufzulösen. Und Regierungschef Gentiloni alles andere als begeistert von der Vorstellung, nach wenigen Monaten wieder aus dem Amt zu scheiden. Mit ihm verliert Italien eine ruhige und ausgewogene Persönlichkeit, die das politische Hickhack verabscheut. In Zukunft werden mit Berlusconi, Renzi und Grillo drei Populisten den Ton angeben. Die von ihnen geforderten vorgezogenen Neuwahlen dürften Italien kaum Vorteile bringen - im Gegenteil. Die scheidende Regierung wird gezwungen sein, unter Zeitdruck und mitten im Wahlkampf den Haushalt zu verabschieden, den ein neues Parlament bis Jahresende genehmigen muss. Das Proporz-Wahlrecht schliesst solide Mehrheiten aus und wird in Zukunft nur noch Koalitionsregierungen zulassen.. Als möglicher Wahltermin gilt der 24. September - der Tag, an dem auch in Deutschland gewählt wird. Mit einem wesentlichen Unterschied: dort ist - unabhängig vom Wahlergebnis - politische Stabilität garantiert. Davon bleibt Italien meilenweit entfernt. Auch nach dem jetzt beginnenden Wettlauf nach Proporzistan.