Ausrasiert!

Angesichts der außer Zweifel stehenden hohen Qualität des Produktes und den durchaus gelungenen Werbekampagnen, erlebte die Lama Bolzano eine ganze Reihe von dicht aufeinander folgenden Erfolgsjahren. So konnte in den ersten Sechziger Jahren ein durchschnittlicher Jahresumsatz von 80 Millionen Klingen erreicht werden. Während desselben Zeitraumes erwarben die Acciaierie di Bolzano ein zusätzliches Areal von mehr als fünfeinhalb Hektar, das zwar nicht direkt an das Werk angrenzte, aber dennoch in seiner Nähe angesiedelt war. In den hinzugewonnenen Werkshallen wurden nun einige der Betriebsbereiche des Stammwerkes untergebracht, so etwa die Abteilungen, die fürs Walzen, Schalen und Schleifen sowie für die Qualitätsabnahme zuständig waren, und eben auch die Abteilung, die sich mit der Fertigung der Rasierklingen beschäftigte. Die umgesiedelte Rasierklingenproduktion erhielt als Abteilungskennzeichen den Buchstaben ‚R‘ (abgeleitet von der Schuhfabrik namens Rossi, die vorher auf diesem Gelände tätig war) und meldete an dieser neuen Adresse den Firmenhauptsitz von Lama Bolzano an.
Während im Laufe des Jahres 1965 der Acciaierie-Konzern mehrere Büros und Außenlager im Einzugsgebiet von Turin und Mailand schließen musste, blieb das in Mailand an der Adresse Corso Matteotti 6 geführte Lama-Bolzano-Verkaufsbüro auch weiterhin in vollem Umfang operativ, was zweifelsfrei auf den äußerst guten Gesundheitszustand dieses Betriebsbereiches zurückzuführen war. Im selben Jahr noch wurde der Angebotskatalog sogar um eine Rasierseife erweitert, die zwar von einem Fremdbetrieb produziert, aber unter dem Markennamen Lama Bolzano vertrieben wurde. Hinzu kam 1967 schließlich auch noch eine „sich auf Handelsreisende stutzende Großhandelsabteilung für Rasierpinsel, Rasierwasser und eventuell weitere Artikel aus demselben Fachsegment“ hinzu.
In Europa war es das französische Unternehmen Bic, das die ersten Einwegrasierer auf den Markt brachte, nachdem es bereits mit großem Erfolg die Wegwerfkugelschreiber weltweit vermarktet hatte. Und so produzierte schließlich auch Lama Bolzano während der letzten Phase seiner unternehmerischen Tätigkeit solche Einwegrasierer...
Im Laufe der zweiten Hälfte der Sechziger Jahre wurden die bisher ausschließlich aus relativ schnell rostendem Kohlenstoffstahl hergestellten Rasierklingen schrittweise durch noch wirksamere und schärfebeständigere Klingen aus rostfreiem Edelstahl ersetzt. Die vom britischen Hersteller Wilkinson eingeführte Verwendung des Inox-Stahls zwang die Konkurrenz zum schnellen Handeln, angefangen vom amerikanischen Hersteller Gilette bis hin zur italienischen Lama Bolzano. Von diesem Zeitpunkt an wurde das gesamte für die Fertigung der Bozner Klingen erforderliche Rohmaterial, sprich der zu Schmalband verarbeitete rostfreie Edelstahl, nur noch aus dem Ausland importiert.
Am Beginn der Siebziger Jahre war in den verschiedensten Regionen Italiens – sei es in der Lombardei wie in Kalabrien, in Apulien wie auf Sardinien – ein dichtes Netz an Handelsvertretern im Einsatz, die sich im Auftrag der Bozner Stahlwerke um den Absatz von Sicherheitsrasierklingen in unterschiedlicher Qualität und Typenart, den dazugehörigen Rasierhobeln und Rasierseifen sowie von weiteren die Rasur betreffenden Accessoires bemühten. Gleichzeitig wurde die friedliche und beschauliche Abteilung der Rasierklingenherstellung von der Bozner Betriebsleitung als eine Art ‚Verbannungsort‘ für allzu stark politisierte und den Gewerkschaften ergebene Belegschaftsmitglieder genutzt, um diesartige ‹Hitzköpfe› möglichst auf Distanz zu den damals aufgebrachten und streitbaren Arbeitermassen zu halten.
Produktions- und absatztechnisch kam es im Laufe der Siebziger Jahre auch zu einem Umschwung in Richtung innovativer Wegwerf-Rasierer, bei dem nicht nur die Klinge, sondern gleich der ganze ‹Apparat› bis zum Nachlassen seiner Wirksamkeit verwendet wurde, um schließlich durch einen neuen ersetzt zu werden. In Europa war es das französische Unternehmen Bic, das die ersten Einwegrasierer auf den Markt brachte, nachdem es bereits mit großem Erfolg die Wegwerfkugelschreiber weltweit vermarktet hatte. Und so produzierte schließlich auch Lama Bolzano während der letzten Phase seiner unternehmerischen Tätigkeit solche Einwegrasierer in sowohl ein-, als auch zweiklingiger Ausführung, wobei allerdings gleichzeitig beschlossen wurde, auf einen weiteren Vertrieb von allen zusätzlich angebotenen Rasuraccessoires zu verzichten. Das war aber auch die Phase, in der die Rasierklingen allmählich zu einer Belastung für die Bozner Stahlwerke wurden.
Die Tage des sonderbaren Hobbys des nunmehr betagten Bruno Falck waren gezählt: 1988 wurde das Markenzeichen an den Südtiroler Unternehmer Franz Holzknecht abgetreten, der bereits zuvor als Lieferant der Plastikteile für den Einwegrasierer mit dem Stahlwerk in Verbindung stand. Am 13. Januar 1989 war es dann soweit, und die Bozner Stahlwerke stellten die Herstellung ihrer Rasierklingen offiziell und endgültig ein. Danach versuchte Franz Holzknecht noch eine gewisse Zeit lang, die Produktion der neu gestalteten Marke Nuova Lama Bolzano wieder anzukurbeln, bis er sich 1991 aber dazu entschloss, die Herstellungsanlagen und die gesamte Produktion nach Deutschland zu verlagern.
So gestaltete sich also das unvermeidliche Ende eines unternehmerischen Abenteuers, das über fünfzig Jahre lang der Stadt Bozen eine beneidenswerte Aufmerksamkeit seitens des italienischen Publikums eingebracht hatte. Zum zweiten Mal innerhalb eines knappen Jahrhunderts war es einem in Südtirol gefertigten Erzeugnis gelungen, die breite Öffentlichkeit auf den Namen der Stadt Bozen aufmerksam zu machen: War es in der Zeit ab der Mitte des Neunzehnten Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges noch das nahezu legendär gewordene, von der Bozner Baumwollspinnerei Kofler, Herrmann & Co. kreierte Bozner Tuch, das sich in ganz Österreich und darüber hinaus großer Beliebtheit erfreute, so waren es in der Zeit zwischen den Dreißiger und den Achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts die Rasierklingen der Marke Lama Bolzano, denen die Aufgabe zuteilwurde, den Namen der Stadt Bozen durch ganz Italien und viele weitere Länder zu tragen.