Politics | Türkei

Unfairer Wahlkampf

Schiessereien, Gesetzesbrüche durch das Staatsoberhaupt und eine Zehn-Prozentklausel charakterisieren die bevorstehenden Parlamentswahlen in der Türkei.

Bis aufs Messer wird in der Türkei um jede einzelne Stimme gekämpft, um bei den Parlamentswahlen am 7. Juni den Sieg davonzutragen.  Am vergangenen Wochenende wurde der Kandidat der Regierungspartei AKP, Ramazan Demir, durch Messerstiche schwer verletzt. Am Tag darauf traf es die regionale Spitzenkandidatin der oppositionellen laizistischen CHP von Adana, Elif Dogan Turkmen, die durch Beinschüsse lahmgelegt wurde.

Zwei Wochen zuvor waren zwei Bomben im Hauptquartier der kurdischen HDP-Partei explodiert. Sechs Menschen wurden verletzt. Gestern wurde ein  Friseur im Istanbuler Künstlerviertel Beyoglu zusammengeschlagen, weil er dem wahlwerbenden AKP-Kandidaten nicht die Hand geben wollte.  Alles Vorfälle, die in EU-Staaten undenkbar wären - und trotzdem sind erst kürzlich wieder die Verhandlungen  über einen EU-Beitritt der  Türkei  aufgenommen worden.

Der Enthusiasmus von türkischer Regierungsseite bei dieser Verhandlungen hält sich sehr in Grenzen. Die EU interessiert den mächtigen Staatspräsidenten Erdogan nur insofern, als wirtschaftliche Vorteile zu erwarten sind. Und die sind derzeit sehr gefragt, weil die türkische Wirtschaft erstmals seit langer Zeit einen leichten Rückgang zu verzeichnen hat. 

Die Arbeitslosigkeit ist auf 11, 2 Prozent gestiegen, die Konsumfreudigkeit ist entsprechend gesunken. Erstmals gibt es in der Türkei auch grossflächige Streiks in der Metallindustrie.  Besonderes Aufsehen erregte die Arbeitsniederlegung von 15.000 Beschäftigten der türkischen Renault und Fiat-Werke .

Sie streikten wegen der schlechten Arbeitsbedingungen und hatten allen Grund dazu : durchschnittlich 50 Stunden arbeitet ein türkischer Metallarbeiter wöchentlich für einen Monatslohn von 800 Euro. Mangelnde Sicherheitsvorkehrungen haben eine hohe Quote von Unfällen am Arbeitsplatz zur Folge. 1.886 Menschen starben im vergangenen Jahr bei der Arbeit. Nur in China liegt die Todesrate höher.

Nicht nur die Wirtschaftskrise könnte der Regierungspartei AKP von Staatspräsident Erdogan den angepeilten absoluten Wahlsieg vergällen. Es sind die Auswüchse von Macht und Arroganz innerhalb der Partei, die viele Stammwähler Erdogans verunsichert haben.

Da ist einmal der protzige neue Präsidentenpalast in Ankara, der auf einem umweltgeschützten Grundstück errichtet wurde und Milliarden verschlungen hat. Am Montag hat das zuständige Landesgericht diesen Prunkbau für illegal erklärt - was nicht bedeutet, dass er abgerissen wird. Die monatlichen Betriebskosten für die 1000 Zimmer-Residenz belaufen sich auf umgerechnet rund eine Million Euro.  

Der Vorsitzende der konservativ-laizistischen CHP  warf Erdogan vor, seit seinem Amtsantritt vor 13 Jahren mindestens 34 Milliarden Euro für Luxus verschleudert zu haben. Der Islam , auf den sich Erdogan immer berufe, verbiete aber den Luxus. 

Noch schlimmer ist, dass ausgerechnet der Leiter des Amtes für religiöse Angelegenheiten der Türkei, Mehmet Görmez,  den Kauf eines Luxusdienstwagens für 300.000 Euro als "Bagatelle" abgetan hat. Stimmenverluste von bis zu 13 Prozent für die AKP werden vorausgesagt.

Damit würde die Regierungspartei AKP die absolute Mehrheit verfehlen, was den Plan von Staatspräsident Erdogan durchkreuzt, durch eine Verfassungsreform seine Macht weiter auszubauen.  

Eine solche Reform wäre der entscheidende Schritt zur  Errichtung einer Diktatur in der Türkei,  warnt der Vorsitzende der kurdischen Arbeiterpartei  HDP, Selahattin Demirtas. Seine Partei verfehlte bei den letzten Präsidentenwahlen nur knapp die 10 Prozent- Grenze. 

 Diesmal deutet alles darauf hin, dass die kurdische Arbeiterpartei den Einzug ins Parlament schafft, indem sie über 10 Prozent der Stimmen erhält .  Denn viele Türken, die aufgrund der einseitigen Schulbücher und der permanenten Negativpropaganda die Kurden eigentlich als Staatsfeinde betrachten, wollen diesmal trotzdem HDP wählen, um Erdogan zu stoppen. 

Weil es bei diesen Wahlen ums Ganze geht, mischt sich der neue Sultan Erdogan rücksichtslos in den Wahlkampf ein, was ihm von der Verfassung her untersagt ist. Sogar in Deutschland war der türkische Staatspräsident auf Wahlkampftour - ungeachtet der Anzeigen der Opposition vor den zuständigen Verfassungsrichtern.  

Erdogan wusste, weshalb er  in den letzten Monaten systematisch die höchsten Richter mit eigenen Gefolgsleuten austauschte: sie wiesen trotz eindeutiger Beweise der Opposition , wonach Erdogan für seine Partei Wahlkampf betreibt, alle Anzeigen als ungerechtfertigt zurück.