72. Filmfestspiele von Cannes
Es ist, als würde man eine völlig andere Welt betreten. Wenn man die steile Küstenstraße hinab in das kleine Städtchen an der französischen Côte d’Azur fährt, vom zwischenzeitlichen Wohnort zum Festivalgelände spaziert und dort auf das pulsierende Herz der internationalen Filmwelt trifft, dann ist das so, als würde man den Alltag und die tobende Welt da draußen hinter sich lassen. Hier regiert in erster Linie die Fiktion, zwar oft durchzogen von realpolitischen Anklängen, doch ganz eigenständig. Die Filme, die hier laufen und die Menschen, die sie anschauen befinden sich in einem Zustand der Trance. Doch es ist keine meditative Erfahrung, das Festival ist kein Ort Ruhe, ganz im Gegenteil. Wer viel sehen will, muss viel laufen, stundenlang in Warteschlangen anstehen und darauf hoffen, dass man in die wenigen, heißbegehrten Vorführungen und Premieren kommt. Es ist warm, die Luft vom Meer salzig, Leute schreien und unterhalten sich in allen Sprachen, dort stehen Schaulustige im Casual-Look, da eine Gruppe Festival-Besucher in Anzug und Abendkleid. Der Glamour, der das Festival in Teilen, vor allem nach außen hin, ausmacht, wirkt gar absurd, doch ohne ihn würde auch etwas fehlen. Als Filmfreund nimmt man all die Strapazen auf sich, man wartet, wirft sich in Schale und nimmt es in Kauf, im schlimmsten Fall von einem Film enttäuscht zu werden. Doch besonders bei letzterem Punkt dürfte man sich im diesjährigen Wettbewerb schwer getan haben. Die Auswahl war so gut wie schon seit Jahren nicht mehr, neben großen Namen haben es eine ganze Reihe Newcomer und unbekanntere Namen in das Rennen um den Hauptpreis, genannt die Goldene Palme, geschafft.
Ein würdiger Sieger also, der sowohl Kritik als auch Publikum zufriedenstellt. Ein seltenes Phänomen im von kontroversen Meinungen geprägten Cannes. Auch insgesamt war es ein Festival der Harmonie, der Freude und Geschlossenheit.
Insgesamt 21 Filme konkurrierten, und sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Da waren altbekannte Namen wie die Indie-Ikone Jim Jarmusch, der mit einem Zombiefilm („The Dead Don´t Die“) an die Croisette zurückkehrte. Oder aber Ken Loach, der ebenso wie die Gebrüder Dardenne bereits zweimal den Hauptpreis gewinnen konnten. Während Loach sich wohlbekannten Sozialdrama-Gefilden bewegte („Sorry We missed You“), konnten letztere Brüder für ihren von der Kritik gespalten aufgenommenen „Young Ahmed“ den Regiepreis gewinnen. Auch Amerikas großes Mysterium, der filmische Poet und Philosoph Terrence Malick kehrte zum ersten Mal nach seinem Sieg im Jahr 2011 (für „The Tree of Life“) nach Cannes zurück, dieses mal mit dem zu großen Teilen in Südtirol gedrehten Epos „A Hidden Life“. Dort erzählt er in drei Stunden die Geschichte des Franz Jägerstätter, auf gewohnt hohem Niveau. Wer mit dem eigenwilligen, gedanklich fließenden Stil Malicks in der Vergangenheit nichts anfangen konnte, wird jedoch auch hiermit nicht glücklich werden. Der Franko-Kanadier Xavier Dolan präsentierte das wohlwollend aufgenommen Queer-Drama „Matthias et Maxime“, der Italiener Marco Bellochio das Mafia-Porträt „Il Traditore“. Von vielen heiß erwartet kehrte auch Quentin Tarantino mit „Once Upon A Time In Hollywood“ zurück und sorgte für allerlei Aufregung bei Publikum und Fans. Pedro Almodóvar zeigte ein sehr intimes Werk, in „Dolor Y Gloria“ zeichnet er das semi-autobiographische Bild eines alternden Filmemachers. Auffällig war, dass vor allem von jenen Filmemachern, die vielleicht nicht jeder sofort am Namen erkennt, außergewöhnlich viel Genre-Kino geboten wurde.
Hiervon lässt sich gut auf die Preisträger überleiten, die in diesem Jahr wohl jeden zufriedenstellen dürften. Zwar hatte es die neunköpfige Jury rund um den mexikanischen Regisseur und Drehbuchautor Alejandro González Iñárritu sicherlich schwer, aus all den qualitativ starken Filmen den „Besten“ zu küren, doch hat man sich auf eine gute Aufteilung der Preise einigen können. So konnte sich der heimliche Favorit auf die Goldene Palme, „Portrait Of A Lady On Fire“ (Frankreich) zwar nicht den Hauptpreis sichern, doch die Auszeichnung für das beste Drehbuch nach Hause nehmen. Die Darstellerpreise gingen an einerseits an Antonio Banderas als Almodóvars alter Ego in dessen „Dolor Y Gloria“ (ebenfalls als Favorit für die Palme gehandelt) und an Emily Beecham für ihre Rolle in „Little Joe“. Der Preis der Jury wurde gleich an zwei Filme verliehen. „Bacurau“ (Brasilien) ist gesellschaftskritisches Genrekino und zeigt eine brasilianische Kleinstadt, die sich gegen äußere Mächte wehren muss. Was als ambitioniertes Porträt beginnt, schwächelt im letzten Drittel jedoch auf Handlungsebene. Der zweite Preisträger dieser Kategorie, „Les Miserables“ (Frankreich) hat nichts mit Victor Hugos gleichnamigen Roman zu tun, sondern erzählt eine Geschichte, die von den Pariser Unruhen im Jahr 2005 inspiriert wurde. Die Silbermedaille, sprich der „Große Preis der Jury“ ging an das Spielfilmdebüt und Flüchtlingsdrama „Atlantique“ (Frankreich) von Mati Diop. Sie ist damit nicht nur die erste schwarze Regisseurin, die in Cannes gewinnt, sondern auch die erste, die es überhaupt in den Wettbewerb geschafft hat. Schließlich blieb noch der Hauptpreis, der an den südkoreanischen Film „Parasite“ von Bong Joon-ho ging. In dieser Mischung aus Gesellschaftssatire, schwarzer Komödie, Sozialstudie und Horrorfilm treffen zwei Familie aus völlig unterschiedlichen Verhältnissen aufeinander. Was dann in zwei Stunden geschieht, ist nicht nur spannend und lustig zugleich, sondern vor allem entlarvend, spiegel-vorhaltend und dennoch zu keinem Zeitpunkt der erhobene Zeigefinger. Wie geschickt Jong-ho hier Genre-Kino mit aktuellen Zuständen in der (koreanischen) Gesellschaft verwebt, ist beeindruckend und offenbart seine wahre Stärke erst nach dem Ende des Films. Ein würdiger Sieger also, der sowohl Kritik als auch Publikum zufriedenstellt. Ein seltenes Phänomen im von kontroversen Meinungen geprägten Cannes. Auch insgesamt war es ein Festival der Harmonie, der Freude und Geschlossenheit. Nur einer hat diese Ruhe gestört, und er wurde bisher in diesem Artikel absichtlich nicht erwähnt. Der Name des Störenfrieds ist Abdellatif Kechiche. Er konnte 2013 mit „Blau ist eine warme Farbe“ die Palme gewinnen und präsentierte nun im Wettbewerb den zweiten Teil einer geplanten Trilogie mit dem Namen „Mektoub, My Love: Intermezzo“ (Frankreich). Der Film ist der diesjährige Aufreger, ein Skandal und Aufschrei, der diesen eigentlich nicht verdient hat. Während Kechiches dreieinhalbstündige, hyper-naturalistische Darstellung einer Gruppe Jugendlicher in feierwütiger Stimmung weltweit negative Kritiken einheimste und mit Sexismus-Vorwürfen bis hin zur Anklage als Pornografie zu kämpfen hat, ist der Film der eigentliche Triumph in einem Jahr voller guter Arbeiten. Denn Kechiche entlarvt sein Publikum. Er tut dies mit einem Blick, der vor allem männlichen Zuschauern sehr bekannt vorkommen dürfte, er fordert die Geduld und die Toleranzschwelle und provoziert dadurch. Während dem Film die handlungsarme Geschichte als Vorwurf angehängt wird, vergisst man, dass das Wesentliche nicht durch große Dialoge oder Wendungen geschieht. Kechiche inszeniert seine Figuren minimalistisch. An der Oberfläche mag es keine große Handlung geben, doch im Subtext werden ganze Romane, ja gar Lebensgeschichten erzählt. Eine Sache, die bei der Premiere von vielen verkannt wurde. Hunderte Zuschauer verließen den Saal, geblendet und absurderweise verstört von den erotischen Bildern, die einem als erstes auffallen. Dass man im Jahr 2019 mit der Darstellung von Sex noch immer schockieren kann, sagt viel über unsere heutige Gesellschaft aus. Viele verpassen es, genau hin zu sehen. Eine wichtige Eigenschaft, war doch gerade diese 72. Ausgabe der Filmfestspiele ungewöhnlich scharfsinnig und hatte ihrerseits Augen und Ohren für feine Töne. „Mekotoub“ beweist trotz einem sehr würdigen „Parasite“ als Gewinner der Goldenen Palme 2019, dass viele der Zuschauer, auch, oder besonders in Cannes, nur schauen...aber nicht sehen (Andrei Tarkovsky).