Culture | Salto Weekend

„Feier der pluralistischen Erinnerung“

Ein Blick von außen auf ein Happening ist im Grunde so etwas wie ein Regelverstoß. Lohnen kann er sich trotzdem.
„Overtime“
Foto: Jörg Oschmann
Zu den zahlreichen von Allan Kaprow, dem Erfinder dieser künstlerischen Spielart, erdachten Happenings gehört auch „Overtime“, welches vor drei Jahren zum ersten Mal seit dem Frühjahr 1968 reaktiviert wurde. Statt der University of California in San Diego war es am 25. Mai 2019 die Villanderer Alm in Südtirol. Diese Neuinterpretation und Rekontextualisierung von Kaprows Anweisungen wurde im Rahmen einer Artist-Residency des lungomare in Bozen erarbeitet von Sophie Krier und Stéphane Verlet-Bottéro. Ein Zaun - in diesem Fall ein 50 Meter langer Schneezaun - wird dabei eine Meile, also in etwa 1,6 Kilometer von einem Ort zum nächsten verschoben. Als Happening kommt dieser scheinbar einfachen Geste eine größer Bedeutung zu. Anlässlich des 3. Jahrestags von „Overtime“ auf der Villanderer Alm wird heute Abend den Teilnehmern am Happening und einigen wenigen weiteren Personen, die sich anmelden konnten im Bergwerk Villanders ein Film gezeigt, der die von Carlos Casas in Bild und Ton eingefangenen Erlebnisse des Abends in 15 Minuten übereinander schichtet und der Wirklichkeit eine symbolische Ebene zur Seite stellt. Ein Gespräch mit Sophie Krier, Stéphane Verlet-Bottéro und Carlos Casas.
 
 
Salto.bz: Ich möchte mit einem Zitat aus „A critical introduction to Twentieth Century American Drama“ von C. W. E. Bigsby beginnen: „In 1959 Allan Kaprow coined the word „happening“ to describe a presentation which had its roots in art but which had taken the artist in the direction of theatre.“ Hat Sie die Neuauflage von „Overtime“ in Richtung Theater geführt? Wenn ja, wie?
 
Stéphane Verlet-Bottéro: Ich denke, dabei geht es um die frühe Phase von Kaprow. Bevor er mit Happenings anfing, arbeitete er mit Enviroments, sowie mit Situationen aus Material, Beziehungen und Anweisungen, die sehr in Richtung von Theater-Performances gingen. Damals las er John Deweys „Art as Experience“ und Werke anderer Vertreter des Amerikanischen Pragmatismus und der John Cage Schule des Zen und entwickelte sich langsam, im Lauf seiner Kariere, von Theater-Anweisungen zu Erfahrungen und am Ende war seine Arbeit nichtmal mehr Kunst.
Sophie Krier: …am Ende nannte er seine Projekte Activities. Das Happening „Overtime“, welches wir ausgesucht haben, ist an einem entscheidenden Punkt, an dem seine Arbeit sich vom großen Kollektiv fortbewegt, während er später sehr intime Arbeiten entwickelte, bei denen Performer und Zuschauer fast im Verhältnis 1:1 zusammen kamen. Kaprow gab eine großartige Audio-Vorlesung „How to Make a Happening“, in welcher er elf Regeln anführte. Wir haben Sie 2019 in drei Sprachen vorgelesen und eine der Regeln ist, die Zeit und den Raum in denen man eine Aktion ausführt, aufzubrechen. Das ist etwas, das er vom Theater hatte.
Wir wollten nicht zum Theater, wir wollten das Happening zu einer gelebten Erfahrung aller Teilnehmer machen. Ich habe auch ein Zitat für Sie, aus den elf Regeln: „A happening is for those who happen in this world, for those who don’t want to stand off and just look. If you happen, you can’t be outside peeking in. You’ve got to be involved physically.“ Das ist, was uns sehr an seiner Auffassung eines Happening gefällt, dass es nicht Kunst ist, die man sich an die Wand hängt, sondern etwas ist, dass man voll und ganz durchleben muss.
Man hat einen Plan und führt ihn aus, aber das Happening wird nicht eingefroren, weswegen es nur in der Erinnerung der Teilnehmer fortleben kann, die fragmentarisch ist. Mir gefällt die Umsetzung sehr an Kaprow,: Die Anweisungen von „Overtime“ scheinen zuerst eindeutig, wenn man sie das erste mal liest, sind aber in Wahrheit sehr offen für Interpretation und Zufälle und zwingen vom Standard-Kunst-Verfahren abzuweichen.
 
 
Welche Überlegungen spielten bei der Wahl der Villanderer Alm als Setting eine Rolle?
 
Verlet-Bottéro: Es gab verschiedene Gründe, einer davon ist praktisch: Um dieses Happening umzusetzen braucht es eine flache - oder begehbare - Fläche, die zumindest eine Meile lang ist. In Südtirol ist das nicht so einfach.
Krier: …eine andere Option war der Flughafen.
Verlet-Bottéro: Die anderen Gründe haben mit den Recherchen zu tun, die wir gemacht haben. Wir haben das Happening seinem San Diego Context entnommen um es zu rekontextualisieren und das Territorium unter dem Aspekt des Zauns - der Grenze - zu lesen; Grenze nicht unbedingt als statisches Objekt oder Ereignis, sondern mehr als Prozess: Es verschieben sich biologische und ökologische Räume, durch den Klimawandel oder Eingriffe in die Umwelt. Soziale Räume verschieben sich, von gemeinschaftlichen Weiden hin zu Land in Privatbesitz.
Wir haben auch mit Archäologen, wie Andreas Putzer, gesprochen um die Landschaft als eine vermenschlichte zu interpretieren und zu verstehen welche Steine oder Eigenheiten der Landschaft als Orientierungspunkte gedient haben könnten, oder einen spirituellen Zweck erfüllten.
Krier: Wir dachten auch über die Malser Haide als Location des Happenings nach, die aber bereits ein Ort ist, der, aufgrund der Proteste, sehr viel Medienaufmerksamkeit erhalten hat. Sepp Kusstatscher, der ehemalige Bürgermeister von Villanders und Robert Gruber, der Präsident des Museumsvereins Bergwerk Villanders hatten uns im Vorfeld auf eine Begehung der Villanderer Alm mitgenommen und uns erzählt, wie sich das Gebiet seit den 70ern entwickelt hatte, etwas wie die Seiser Alm. Man muss noch nichts zahlen, um auf der Villanderer Alm zu wandern, aber man kann spüren in welche Richtung sich die Alm bewegt.
Während der Begehung wurde uns auch von einem Zaun erzählt, der heimlich verschoben wurde. Wenn für zwanzig Jahren niemand dagegen Einspruch erhebt, so kann man Anspruch auf dieses Land erheben. Es verläuft dort außerdem die Periadriatische Naht und man ist nahe an vielen anderen Grenzen, die man in den Fokus rücken kann.
Verlet-Bottéro: Und diese Grenzen sind fast alle subjektiv, weswegen es interessant ist, sich mit ihnen durch ein Happening, eine Erfahrung auseinander zu setzen. Subjektivität ist bei der Vorstellung von Grenzen wichtig.
 
 
Herr Casas, wie geht es Ihnen mit dem Begriff „Soundscapes“? Der viel bemühte Begriff wird verwendet um die Musik zu beschreiben, welche Sie für den Film gemacht haben…
 
Carlos Casas: Was mich am Begriff „Soundscape“ interessiert, hat mit Murray Schafer zu tun, der ihn kanonisiert hat und von dem aus das Wort breite Verwendung gefunden hat. Der Begriff hilft zu definieren, was wir im Film getan haben, aber bezieht sich auch auf die Fähigkeit von Klängen, Information im Kontext eines speziellen Ortes zu liefern. Es geht auch darum, eine gewisse poetische Instanz zu schaffen durch die Verwendung spezieller Mikrofone und deren Platzierung. Ich verwende den Begriff „Soundscape“ in dieser Beziehung sehr häufig, auch wenn es etwas anachronistisch ist, da es sehr viel Missbrauch des Begriffs gibt.
 
Wie ist Ihr Arbeitsprozess, wie entstand diese Musik?
 
Interessanterweise spreche ich nie von „Musik“, denn es ist ein sehr spezifischer Begriff: „Musik“ hat eine Sprache und Codes, die man verwendet um sie zu schreiben. Man verwendet bestimmte Instrumente. Man liest sie und unterteilt sie. In meinem Fall kann man eher von Sound oder Sound-Arbeiten sprechen. Ich bin kein Musiker und verwende die Codes von Musik nicht. Mit Soundscapes versucht man ein spezielles räumliches Setting abzubilden, das zur Identität eines Ortes gehört und eine andere Art von Information vermittelt. Ich folge einer anderen Art des Komponieren, die ich nie wage Musik zu nennen. Was wir gemacht haben ist, einige dieser Orte aufzunehmen und diese in andere klangliche Strukturen umzuwandeln, die wir verwenden können um einige unserer Erfahrungen übersetzen.
Bei meiner persönlichen Arbeit, geht alles von der Aufnahme aus, von allen möglichen Quellen, ob das Radiofrequenzen oder  normale Umgebungsgeräusche sind. Es sind Aufnahmen auch mit andere Instrumente wie Hydrofonen, Kontaktmikrofonen oder Beschleunigungssensoren, die Daten liefern, die man später zu Sound machen kann. Sobald ich all diese Sound-Schichten gesammelt habe, beginne ich sie zusammenzustellen und zu mixen um den Ort zu re-kreieren. Manchmal sehr direkt, was man „Soundscape“ nennen könnte und manchmal erschaffe ich bestimmte Aspekte aus der Erinnerung neu oder schaffe gewisse Harmonien, die eine andere klangliche Erfahrung erzeugen können.
 
 
Am Anfang des Events heute steht eine performative Wanderung. Welches wird der performative Aspekt sein?
 
Krier: Performativ wird sein, dass wir suchen. Aber ich verrate nicht wie, weil wir das den Personen vorbehalten, die dort sein werden um es zu erfahren. Wir werden den Körper des Berges im Bergwerk sprechen und - ich denke, man kann es sagen - performen lassen. Darauf bezieht sich die Beschreibung. Wenn wir sagen wie wird es zu illustrativ. Als wir beim Happening in der Nacht auf dem Totenrücken waren, war es als ob sehr vieles heraufbeschworen wurde, Geschichte und Geschichten, weil all diese verschiedenen Personen dort waren, Einheimische und Personen von außerhalb. Als wir zur Mair in Plun Hütte abgestiegen waren und einen Schnaps getrunken hatten, kamen all diese Geschichten hervor, die das Happening ausgelöst hatte. Das Event heute ist eine Feier der pluralistischen Erinnerung. Die Menschen, die heute dabei sind werden auch alle etwas erleben und fühlen, aber die Wanderung ist nicht etwa performativ im Sinne einer geführten Tour. Wir suchen nach dem Gegenteil davon.