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Folgerungen

Unter dem Titel „Südtirol – Eine Elegie“ stand die ARUNDA-Ausgabe Nr. 9 von 1979, verfasst vom gebürtigen Bozner Autor und Kunstkritiker Kristian Sotriffer (1932 – 2002).
Note: This article is a community contribution and does not necessarily reflect the opinion of the salto.bz editorial team.

Mit „Folgerungen“ wird die Serie von fünf Beiträgen aus der ARUNDA von 1979 abgeschlossen.

„Das Freiheitsrecht des Menschen, sich individuell zu entfalten, gebührt ihm nur, wenn und soweit er anerkennt, dass es das Recht der übrigen lebenden Natur gibt, sich desgleichen zu entfalten, in all den Arten der Tier- und Pflanzenwelt“.

Claude Lévi-Strauss

Innerhalb von fünfzig Jahren hat sich die Welt, die äußere und unsere innere, stärker verändert als zuvor in dreitausend Jahren. Denn was Menschen früher entwickelt und geschaffen haben, was sie an Häusern, Kirchen, Gärten, Wegen und Straßen errichten, an bebautem Land kultivieren konnten, war ja von Werkzeugen bestimmt, die sie sich selbst herstellten. Erst seit gesprengt, gebaggert wird, Kräne dinosaurierartig ihre Hälse um Betonmauern schwenken, hat eine andere Kategorie von Veränderung eingesetzt. Sie wird nicht mehr vom Menschen und seinen Werkzeugen, sondern von Maschinen bestimmt, die er zur Erleichterung seiner Arbeit ersonnen hat, die also etwas durchaus Nützliches sein könnten, wären sie ihm nicht längst über den Kopf gewachsen.

Wo so viele Einzelheiten aufeinander bezogen waren und sind, wie in der Südtiroler Kulturlandschaft, wird dieser Einbruch, der als solcher bestehen bleibt, doppelt stark spürbar. Wenn sich seine Umwelt verändert, bleibt auch das Verhältnis des Menschen zu ihr nicht mehr dasselbe. Er lernt, sich mit dem Neuen zu arrangieren und verändert dabei jene Mentalität, durch die er sich von anderen unterschieden hatte. Die Nivellierung eines einst reich facettierten Stücks Natur hat die Nivellierung dessen zur Folge, der einst mit ihr lebte und der jetzt gelernt hat, neben oder gegen sie zu existieren. So bestimmen nicht so sehr Herkommen und Tradition den Menschen, wie man vor allem in Südtirol immer glaubt, sondern eine geprüfte geistige Haltung einerseits im positiven Sinne oder ein unreflektiertes Nutzdenken im negativen Sinne.

Da man in Südtirol all dies instinktiv begreift und unbewusst noch erfasst, muss es zu Konflikten zwischen der alten und er neuen Lebensweise kommen. So ist der denkende, aufgeweckte, interessierte und empfindsame Bewohner dieses Landes aber ein Gestörter, der unter dem offensichtlichen Ungestörtsein der anderen, für die alles in Ordnung scheint, nochmals und zusätzlich leidet. Er wird zu einer Art „Dissident“ und erfährt die Schmähungen eines solchen. Das ist keine Basis für die Entwicklung eines tragfähigen neuen Bewusstseins, für das Finden einer neuen Identität.

Südtirol, das sollten seine Neuplaner bedenken, ist kein Land für Automobile, die aus den Tälern hochsteigen wollen.

Südtirol, das sollten die Siedlungsplaner erkennen, ist kein Land für ortsfremde und von der Bauindustrie vorgefertigten Formen.

Südtirol, das sollten sich die Touristikexperten hinter die Ohren schreiben, ist kein Land, das immer gastfreundlich war, das es nie notwendig hatte, sich Fremden gegenüber, die sich nicht als Gäste, sondern als eine Art Eroberer empfinden wollen, anzubiedern.

Südtirol, das sollten seine Politiker endlich erkennen, ist ein Land, in dem man nicht dem Aberglauben aufsitzen muss, der die „Arterhaltung“ unseligen Angedenkens zum Inhalt hat, die zum Schluss nur zum inneren Auflösungsprozess führt.

Südtirol kann, das muss sich jeder Bewohner des Landes wieder einprägen, aus sich selbst heraus bestehen, wenn es nicht von innen heraus Verrat an seinen wahren Traditionen üben will, die einen größeren Raum als den von Volkstumpolitikern heute abgesteckten umfassen.