Culture | Performance

Erwartungen, umgepolt

"Low Pieces" von Xavier Le Roy bei Transart in Bozen.

Es gibt für alles einen Platz, es hat alles seine Berechtigung, weil alles ein großer Container (und ein kleines großes Theater) ist, in dem die Menschensuppe schwimmt.
Der Mensch, in diesem Fall der studierte Molekularbiologe und Künstler Xavier Le Roy mit seiner Gruppe, will sich dehnen, das (noch) Undenkbare denken - der Mensch in seiner nächsten Entwicklungsstufe, dem Roboter, und er will das (nicht mehr) Denkbare denken - und daher auch tanzen - seine Vergangenheit/Vorgängerschaft in Tierform. Und sich in andere Wesenformen, Pflanzen, Steine, Korallen, versetzen. So gesehen an diesem Abend im Stadttheater Bozen.

Zurück zum Anfang: die PerformerInnen sitzen im Black Cube des Studios in einer Reihe, das Licht ist an, es wird untereinander geredet, und sobald das Stück beginnt, auch mit dem Publikum.
Um die Freiheit soll es gehen, so der Vorschlag einer Theaterbesucherin. Die Performer weben das Gespräch geschickt weiter, werfen Bälle, das Publikum wirft weiter, die Stimmen wechseln sich ab, ein Gewebe von Meinungen, verbalisierten Gefühlen, Einwürfen, Ausdrücken, entsteht. Eine Landschaft aus menschlichen Äußerungen.
Freiheit wäre ein Zustand, der nur momenthaft auftaucht; statt dem großen Begriff Freiheit könne man "Agency" (Handeln) für sich in Anspruch nehmen. Jan Ritsema, einem der Performer, ist aufgefallen, dass auf Bozens Hauptplatz, dem Waltherplatz, bemerkenswerterweise die Statue eines Dichters steht und nicht die eines Generals. Der General repräsentiert die Unfreiheit, der Dichter die Freiheit. Und er fügt hinzu, dass wir meistens eher genau wüssten, wenn wir Ersteres erleben, nicht wenn Letzteres eintritt.
Von der Freiheit geht es thematisch zur Langeweile. Jemand aus dem Publikum fragt, ob das Ganze nicht langweilig sei. Achtsam wird auch diese Meinung ernstgenommen, nur die Amerikanerin Eleanor Bauer wirft den Ball frecher zurück: "My uncle used to say that only boring people are bored." Gelächter im Publikum.
Es ist eine hohe Kunst, ein Gespräch zu führen. Die PerformerInnen sprechen tanzend, geschmeidig. Es herrscht eine extreme Offenheit im Sprechen und auch im Hören. Alles was ist, das ist. Und hat seine Berechtigung. Das ist eine nicht unbuddhistische Haltung.

Wie geht man mit diesem Angebot der kompletten Offenheit um? Ist sie beängstigend, ist sie aufregend, ist sie langweilig? Das ist die Frage, die man sich selber stellen kann zu Beginn des Stückes, und auch, wie frau sich selber positionieren möchte in dem Ganzen. Und weil ein gefüllter Theaterraum ja auch repräsentativ für einen Teil der Gesellschaft stehen kann, hallt diese Frage bezüglich des größeren Gesellschaftsgewebes nach. Welche Erwartungen stellt mensch an das Theater im Kleinen und an die Gesellschaft im Großen?
"Low Pieces" bedient keine Erwartungshaltungen, bzw. wirft die ZuschauerInnen genau an diesen Ort, wo sie mit diesen eigenen Erwartungen konfrontiert werden. Das Stück lehnt den Theaterraum als "Service-Raum" vehement ab, und möchte ihn öffnen für das Ungeplante. Außerdem beansprucht es ihn als Stelle für radikale ästhetische Experimente, die formal extrem zurückhaltend sind, und eben das Publikum nicht mit Action und Katharsis bedienen, sondern mit Langsamkeit - und unter Umständen sogar Langeweile.

Wir befinden uns in einem extrem geschützten Raum, der gleichzeitig Verletzbarkeit transportiert. Wir sind ZeugInnen eines "piece", in dem kein Mord, kein Betrug, keine Gewalt und kein Wahn vorkommt. Das Menschliche ist nur mehr eine Frage der Nuancen, der feinen Unterschiede zwischen den Stimmen. Und das Menschliche ist irgendwie auch ein Käfig, in dem wir festsitzen. Selbst an den Roboterfiguren und die Tiere nachahmend scheitern die international anerkannten ChoregraphInnen, die Xavier Le Roy für das Stück rekrutiert hat. Keine/r wird je wirklich zum Tier.

Die lapidare Frage "warum Nacktheit", ist dann auch überhaupt nicht mehr so relevant wie sie es am Tag vorher war bei der immer spannenden Transart-Marende, wo auch Le Roy zu Gast war. Diese Nacktheit ist einfach. Weder schön noch unschön, weder sexy noch ihr Gegenteil. Fremd und gleichzeitig sehr bekannt. Ob sie verletzbar ist, frage ich mich, oder ob die Auffassung von verletztlicher Nacktheit nicht wiederum konditioniertes Denken ist.
Schön sind die sich im Wasser wiegenden Korallengebilde, die sich aus Händen und Füßen der PerformerInnen bilden, oder die "Steinlandschaften", das letzte Bild im Stück. Diese Bilder funktionieren vor allem, weil sie aus vielen Körpern, einer Vielheit, bestehen. Sie leben vom Zusammenspiel der Gruppe und sie erzählen davon, dass es im Grunde auf der Welt immer ein WIR braucht, um Schönes zu schaffen.