Platz für Neues
Täglich gegen 10 Uhr morgens zieht Miruna Andrei die Rollläden in der Meraner Ugo-Foscolo-Straße hoch und entblößt ein kleines Studio, das hinter einer breiten Fensterfront liegt; ein Raum, der Eingeweihten zugleich als Studier- und Wohnzimmer, Arbeitsplatz und kultureller Treffpunkt dient: das “CoWorking della Memoria” - ein Ort, um die kollektive Erinnerung zu stärken und neu zu definieren.
Im Studio stehen einige Tische, an denen Studierende, junge Arbeiter:innen und nachmittags und im Sommer auch Schülerinnen und Schüler ihren Aufgaben nachgehen. Die Wände sind mit Erinnerungen verkleidet: Erinnerungen an die Zugfahrt, die im Rahmen von “Promemoria Auschwitz” jedes Jahr rund 400 Jugendlichen den Holocaust näher bringt; oder an Srebrenica, wo sich die Teilnehmenden von “Ultima Fermata” an den Krieg in Jugoslawien erinnern. Aber auch leichtere Themen und Eindrücke sind an den Wänden des CoWorking Space festgepinnt: Fotos vom letzten Filmscreening, von einem Spieleabend oder einem Konzert finden genauso Platz wie die Erinnerung an die vom CoWorking organisierte Diskussionsrunde zum Krieg in der Ukraine oder der Sticker einer Band.
“Als das Zentrum 2017 eröffnet wurde, waren viele erstmals verwirrt”, erzählt Miruna. “Einige dachten, es sei ein Ort, an dem das Gedächtnis trainiert oder Alzheimerpatienten betreut würden”, erklärt die 23-jährige Meranerin, die dem CoWorking Space seit einigen Jahren vorsitzt. Mit der Zeit hat sich das CoWorking della Memoria aber als Ort für Begegnung, Austausch, Studium und kollektive Gedächtnisbildung etabliert: Das von ARCIRAGAZZI geführte Zentrum schafft einen kulturellen Raum, der von jungen und nicht mehr so jungen Menschen genutzt und gestaltet werden kann.
Tagsüber geht es dabei eher ruhig zu. Während Miruna ihren Arbeitsplatz im CoWorking einrichtet, trudeln die ersten Besucher:innen ein. Die meisten von ihnen sind Stammgäste, die den zur Verfügung stehenden Raum regelmäßig zum Studieren und Arbeiten nutzen; einige bringen einen Freund, andere ihr Haustier mit. “Unser CoWorking steht allen, die in Meran ansässig sind oder hier studieren, offen”, erklärt Miruna. Um den Raum zu nutzen, ist nichts weiter als eine kurze online Registrierung nötig, die sowohl für die Haustiere als auch für ihre Besitzer:innen durchgeführt werden muss. So können sich die Mitarbeiter besser auf die Besucher:innen einstellen und eventuelle Covid-Ausbrüche zurückverfolgen. Gleichzeitig wissen die Besucher:innen auf diese Weise auch sofort, ob das Zentrum geöffnet ist und ob es noch freie Plätze gibt.
Normalerweise ist der CoWorking Space täglich zwischen 10 und 18 Uhr geöffnet, nur in Ausnahmefällen bleibt es für einige Tage geschlossen: Dann zum Beispiel, wenn sowohl Miruna als auch ihr Mitarbeiter Manfredi Minniti die Jugendlichen zu den Projektreisen nach Auschwitz, Srebrenica oder Sizilien begleiten. “Die Projektreisen sind eine großartige Möglichkeit, um jungen Menschen Themen wie den Holocaust, den Krieg in Jugoslawien oder die Ausbeutung der Feldarbeiter unter der Mafia in Sizilien näherzubringen”, so Miruna. Gleichzeitig werden auf diese Weise auch neue Kontakte zwischen den Jugendlichen in und außerhalb der einzelnen Regionen geknüpft und junge Menschen auf die Kulturarbeit des ARCIRAGAZZI aufmerksam gemacht: “Ich bin selbst durch eine dieser Reisen mit den Menschen im CoWorking in Kontakt gekommen”, erzählt Miruna. “Durch die Projektreisen entsteht ein Netzwerk, durch das junge Menschen in unsere Kulturarbeit eingebunden werden können”.
Heute kümmert sich Miruna nicht nur um die Betreuung des Lesesaals, sondern gestaltet zusammen mit Manfredi Minniti und einigen Freiwilligen auch das Kulturprogramm des CoWorking della Memoria: “Ich schau mir an, was auf dem Territorium passiert, überlege, wen wir einladen und welche Themen wir aufarbeiten könnten”, erklärt die Studentin. Dabei sucht sie einerseits den Kontakt mit dem ARCI in Bozen und anderen Kultureinrichtungen im Land; gleichzeitig versucht sie aber die lokale Bevölkerung direkt durch eigene Initiativen anzusprechen. “Es ist schön, dass das CoWorking von zwei jungen Menschen geführt werden kann, die die lokalen Gegebenheiten genau kennen”, so Miruna. Eine Tatsache, die auch den Austausch mit den Menschen vor Ort fördert: Immer wieder kommen Besucher:innen des CoWorking auf Miruna zu und bringen sich mit eigenen Ideen in die Gestaltung des Programms ein; einige von ihnen helfen auch als Freiwillige bei der Ausarbeitung mit. “In Südtirol ist es kaum üblich, dass man als junger Mensch Kulturräume mitgestaltet”, so Miruna. “Das wollen wir ändern.”
So wurden im letzten Jahr ein abwechslungsreiches Programm gestaltet, darunter: eine Diskussionsrunde zur Situation in der Ukraine (eine Woche vor Kriegsbeginn), Filmabende mit anschließender Diskussion zum Film, ein Astro-Abend, bei dem Mythen zuerst erzählt und dann wissenschaftlich aufgebrochen wurden, Spielabende, ein Kleidertausch und eine episodische Aufarbeitung der Meraner Stadtgeschichte. Die Idee zu dieser historischen Aufarbeitung der Stadt Meran entstand durch den intergenerationellen Austausch im CoWorking selbst: Das ARCIRAGAZZI teilt sich den Platz in der Ugo-Foscolo-Straße nämlich mit dem Centro Auser-Vssh Zentrum, eine Organisation, die sich ums aktive Altern kümmert. Die jungen Menschen kommen also auch mit den Ältesten der Gesellschaft in Kontakt: “Die älteren Menschen erzählen dann, wie es früher war, was es alles gab oder nicht gab in Meran”, erklärt Miruna. “Auch so entstehen neue Ideen, Geschichten und Erinnerungen”.
Das Programm für die kommenden Monate wird in Kürze bekannt gegeben, einige Programmpunkte stehen aber schon fest: “Der Klimawandel wird eine zentrale Rolle spielen und wir möchten jener Kunst, die nicht in den Mainstream fällt, durch Filmscreenings, Musik und Ausstellungen Platz einräumen”. Auch die Stadtgeschichten sollen wieder aufgegriffen werden: “Diesmal werden wir versuchen, die Erzählungen durch Theaterperformances zu ergänzen und aufzuarbeiten”, so Miruna. Wird es im Sommer im CoWorking zu heiß, weichen die Veranstaltungen auf alternative Standorte im Freien aus. “Wir versuchen uns hier, was den Standort als auch den Wochentag betrifft, mit anderen Organisationen zu koordinieren. Wir wollen ein breites Kulturangebot bieten, keine Konkurrenz”, stellt Miruna klar.
Dabei tut sich das CoWorking noch immer schwer, auch die deutschsprachige Bevölkerung zu erreichen: “Es wäre schön, wenn wir hier ein engeres Netzwerk bilden könnten, um den Austausch zu fördern”, so Miruna. Letztendlich geht es dem CoWorking nämlich darum, sich gegenseitig die Augen für Geschichte, Kultur und das Andere zu öffnen: “Wir wollen einen Raum bieten, wo wir gemeinsam die Augen öffnen können - uns selbst und den anderen.”
Text von Valentina Gianera