Politics | Italiens Regierung

Im Tunnel

Nach dem Referendum freuten sich einige über die "gerettete Verfassung". Die Mehrheit freute sich, weil Renzi zurücktreten musste. Und nun?
Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag der Community und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.

Es gehört sich eigentlich, zum Jahresende einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft zu werfen. Dazu bin ich diesmal außerstande. Ebenso düster, wie das ganze Jahr verlief, sind die Aussichten, und Hoffnung kann zurzeit nur haben, wer nicht ganz bei Trost ist. Egal, wo man beginnt: in den USA, Frankreich, der Türkei, Polen, Aleppo, bei den islamistischen Terroranschlägen (in Berlin und anderswo) oder dem Brexit. Aber da dies nun einmal ein Blog über Italien ist ...

Italien: „Gerettete Verfassung“

Dabei gibt es für das, was Anfang Dezember in Italien geschah, Lesarten, die nicht Düsternis, sondern Glückseligkeit bekunden. Die eine, die man die unschuldige nennen könnte, stammt von Verfassungsrechtlern, welche Renzis Senatsreform als Anschlag auf die Verfassung betrachteten. Für sie war das Referendum ein positives Wunder. Die Politikwissenschaftlerin Nadia Urbinati schrieb, am 4. Dezember hätten „19.420.730 Italiener“ die Verfassung verteidigt – man spürt die Andacht, mit der sie in ihrem Studierzimmer der New Yorker Columbia-Universität diese Zahl niederschrieb. Was da am 4. 12. in die Abstimmungslokale marschierte, war ein Millionenheer von Verfassungsrettern.

Wer aus verfassungsrechtlichen Gründen für das Nein war, aber sich weniger Illusionen über die subjektiven Motive macht, mag im Ergebnis die Hauptsache sehen. In der Tat: In absehbarer Zeit wird wohl niemand mehr versuchen, die italienische Verfassung zu ändern – auch wo es sinnvoll wäre. Der „perfekte Bikameralismus“, über dessen Idiotie sich eigentlich alle – die Verfassungsrechtler inbegriffen – einig sind, wird nun Italien auf Jahre, vielleicht Jahrzehnte hinaus erhalten bleiben. Denn nun ist klar, dass die italienische Verfassung jeden, der sie ändern will, wahrscheinlich in die Falle lockt: weil jede Verfassungsänderung, die vom Parlament nicht mit Zweidrittel-, sondern nur mit einfacher Mehrheit beschlossen wird, einer Volksabstimmung zu unterwerfen ist. Da die politische Landschaft Italiens aus drei etwa gleichgroßen Lagern besteht, die sich bis aufs Messer bekämpfen, wird ein solches Referendum immer auch zur Abstimmung über die gerade amtierende Regierung werden. Was die beiden Lager, die gerade in der Opposition sind, zu dem einlädt, worauf man sich immer einigen kann, auch wenn man sich ansonsten nur bekämpft: auf das gemeinsame Nein. Zur Krankheit des politischen System Italiens gehört seine Veränderungsresistenz.

Italien: „Weg mit Renzi“

Zu denen, die nach dem 4. Dezember die Prosecco-Korken knallen ließen, gehört nicht nur die kleine Elite von Verfassungsrechtlern, die ihre „gerettete“ Verfassung bejubeln. Die meisten Nein-Sager verfolgten ein anderes, prosaischeres Ziel, mit dem sie nicht hinter dem Berge hielten: Weg mit Renzi. Dass es ihnen dabei nicht um die Rettung der Verfassung ging, zeigt schon der Blick auf ihre Führer: Berlusconi, der während seiner gesamten Amtszeit im Clinch mit der italienischen Verfassung und dem Verfassungsgericht lag; Salvini, der vor Kurzem noch die Sezession „Padaniens“ betrieb und heute die Flüchtlingsboote auf Grund setzen will, und dessen Vorgänger Bossi sich noch mit der Trikolore den Hintern abwischen wollte; Grillo, der eigentlich die repräsentative Demokratie durch die (von Casaleggio und ihm kontrollierte) „direkte“ Netz-Demokratie ersetzen will. Und dann noch eine sog. „Linke“, die messerscharf analysiert, dass Renzi als Agent des internationalen Finanzkapitals die italienische Demokratie zerstören wolle. Sie haben ihr gemeinsames Ziel erreicht. Mit Renzi ist ein Politiker zurückgetreten, der zweifellos schwere Fehler machte, aber auch die Hoffnung verkörperte, dass sich in Italien überhaupt noch etwas ändern lässt.

Geschwächtes Italien

Wer trotzdem nach Tröstendem sucht, kann es vielleicht darin finden, dass Renzis Niederlage zu seinem Rücktritt führte, aber keine Apokalypse auslöste. Die Regierung Gentiloni verspricht Kontinuität: nicht nur weil sie die gleiche Parteienkoalition im Parlament und im Senat trägt, sondern weil sie (fast) auch aus der gleichen Mannschaft besteht. Als Person erscheint Gentiloni nüchterner und grauer, aber auch zuverlässiger als der Paradiesvogel Renzi zu sein. Darin kann man auch eine Erholung sehen.

Aber klar ist, dass diese „fotokopierte“ Regierung in den Rest der Legislaturperiode (die schon in einem halben Jahr enden könnte) geschwächt hineingeht. Sie ist eine Regierung der Geschlagenen, die Probleme haben wird, das Heft des Handelns in der Hand zu behalten. Die Gewerkschaft bereitet schon die nächste Volksabstimmung über Teile des „Jobs Act“ vor, wofür schon 3 Millionen Unterschriften gesammelt wurden. In der Bankenkrise droht ein weiterer Tsunami: Wenn jetzt der Staat die Siena-Bank MPS mit Steuergeldern rettet, könnte es nach den geltenden Brüsseler Regeln auch viele Kleinrentner treffen, die ihr letztes Geld in nachrangigen Obligationen anlegten. Ob es der Regierung gelingt, dies zu verhindern, wird sich noch erweisen müssen. Die wirtschaftliche Stagnation hält an. Die italienische Verhandlungsposition in Brüssel ist geschwächt: Noch vor wenigen Monaten schien Renzi in der US-Administration einen gewichtigen Bündnispartner gegen die Brüsseler Austeritätspolitik gefunden zu haben. Trumps Sieg hat diesen Plan zu Makulatur gemacht.

So wartet am Ende des italienischen Tunnels kein Licht, sondern nur eine trübe Funzel: die 5-Sterne-Bewegung. Die in Rom gerade vorführt, wie man die Korruption, die man vorne mit großem Geschrei verjagt hat, durch die Hintertür wieder ins Haus bitten kann. Und deren Chef Grillo seit dem Berliner Anschlag Salvini in der Flüchtlingsfrage rechts überholen will.

Verblassen der Menschenrechte

Mit Renzi war Italien auf gutem Weg, nach der Berlusconi-Ära wieder zu einem Stützpfeiler Europas zu werden. Heute scheint der Zerfall Europas nicht mehr zu verhindern sein; er kann nur noch dadurch aufgeschoben werden, dass es seine Widersprüche auf Eis legt. Beispiel Flüchtlingspolitik: Da Europa zur Solidarität unfähig ist, bleibt nur die Problemverlagerung nach außen. Wobei das Türkei-Abkommen zu einem „Modell“ wird, das Europa nicht nur dort zum Komplizen autoritärer Regimes macht. Das Europa der Menschenrechte wird zur Utopie von gestern.

In Berlin richtet ein Islamist am 19. Dezember ein Massaker an. Das Entsetzen übertönt auch die Zweifel, die wenige Tage zuvor ein anderes Ereignis auslöste: die sog. „Rückführung“ einer ersten Gruppe afghanischer Flüchtlinge in ein Land, das gegen jede Evidenz für „sicher“ erklärt wird. Das Zusammenwirken beider Ereignisse ist ebenso schrecklich wie perfekt: Die Rückführungsaktion stellt nun kaum noch jemand in Frage. Die Terroristen und die AfD spielen über Bande – und treiben nicht nur die Medien, sondern auch die großen Parteien vor sich her.

2015 gab es einen Moment, in dem ich zum ersten Mal in meinem Leben ein wenig „Stolz“ fühlte, in Deutschland zu leben. Es währte nur einen schönen Augenblick. 2016 hat mich in die Realität zurückgeholt.