Die wundersame Abschaffung der Provinzen
Die Abschaffung bestehender Institutionen gleicht in Italien der Quadratur des Kreises. Seit Jahren versprechen die Regierungen - von Berlusconi über Monti bis Renzi - die Abschaffung der Provinzen und ihrer unnützen und kostspieligen Parlamente.Doch alle scheiterten bisher am massiven Widerstand der 110 Provinzen mit ihren insgesamt 2926 Abgeordneten. Nun ist Renzi ein erster wichtiger und symbolträchtiger Schritt gelungen. "Jetzt müssen sich 3000 bezahlte Politiker der Mühe unterziehen, einen Job zu suchen", triumphiert der Premier.
Die versprochene Abschaffung allerdings kann nur durch eine langwierige Verfassungsänderung erreicht werden. Das vom Senat mit einer Vertrauensabstimmung genehmigte Gesetz ist ein wirrer Text - wie fast alle Gesetze aus dem italienischen Parlament. Es sieht die Abschaffung der Wahlen für die Provinzparlamente vor. Statt der gewählten Politiker sollen nun Bürgermeister aus den jeweiligen Provinzen den Kurs bestimmen. In jeder Provinz wählen die Bürgermeister aller Gemeinden aus ihren Reihen die entsprechenden Vertreter. Unklar ist, was mit den 53.246 Bediensteten passiert. Sie sollen in Zukunft zu den Regionen oder Gemeinden wechseln. Im Gesetz ist festgehalten, daß es sich um eine Übergangslösung bis zur endgültigen Abschaffung der Provinzen handelt. Außerdem werden zehn "cittá metropolitane" eingeführt. Auch dort sollen die Entscheidungen in Zukunft den Bürgermeistern vorbehalten werden. So müssen z.B. die 121 Bürgermeister der Provinz Rom ihre Vertreter für den Consiglio metropolitano und die conferenza metropolitana bestimmen. Den Provinzen verbleiben die Zuständigkeiten für Schulgebäude, Verkehr und Umweltschutz. Das Gesetz sieht auch den Zusammenschluß kleiner Gemeinden vor.
Wichtigstes Ergebnis dieser Wurstelei: Die in diesem Jahr in 52 Provinzen fälligen Wahlen finden nicht statt. Die Ratsmitglieder müssen in Zukunft nicht mehr bezahlt werden, da sie als Bürgermeister bereits eine Amtsentschädigung erhalten. Das Gesetz tritt am 1. Jänner 2015 in Kraft. Mit diesem Tag sind alle gewählten Provinzparlamente hinfällig.
Gehälter in den Regionaräten werden stark gekürzt
Indessen bastelt der für dieses Gesetz verantwortliche Staatssekretär Graziano Delrio bereits an einer neuen Maßnahme, die von den Bürgern sicher positiv aufgenommen wird: die Gehälter der Regionalratsabgeordneten sollen um mindestens 3500 Euro im Monat gekürzt werden. Kein Abgeordneter soll in Zukunft mehr verdienen als der Bürgermeister der jeweiligen Regionalhauptstadt. Der lombardische Präsident Roberto Maroni müsste sein Gehalt von 13.245 Euro im Monat jenem des Mailänder Bürgermeisters Pisapia angleichen, der 5.930 Euro verdient. Der piemontesische Präsident würde nicht mehr 13.800 Euro verdienen, sondern nur noch 4.650 - so viel wie Turins Bürgermeiser Piero Fassino. Ein beträchtlicher Unterschied von 9.150 Euro. Für die normalen Abgeordneten dürfte sich die Kürzung auf 3.500 Euro monatlich belaufen.
Provincellum
Vielen Dank, Gerhard Mumelter, ich war schon kurz vorm Verzweifeln, dass dieses Thema hierzulande überhaupt nicht medial aufgearbeitet wird. Ich hatte mich gar schon daran versucht, den Gesetzestext selbst zu lesen, aber nach aufkommender Übelkeit das Vorhaben bleiben lassen. Ein paar Punkte zur Ergänzung:
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Erstens ist das ganze Gesetz extrem parteipolitisch besetzt. In unseren unmittelbaren Nachbarprovinzen zerfleischen sich so gut wie alle Parteien gegen den PD.
http://www.giornaledisondrio.it/notizie/politica/sondrio-sertori-ddl-de…
„Unser“ Gianclaudio Bressa wird selbst in der Stadt, in der er einst beliebter Bürgermeister war, mittlerweile ausgepfiffen. Während sich der PD selbst feiert "Il riconoscimento della specificità montana è un risultato storico per i nostri territori"
http://www.giornaledisondrio.it/notizie/politica/sondrio-del-barba-prov…
werden jetzt auch ganz andere, sehr klare Worte vom südlichen PD hörbar:
http://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=wS-VdshYHgQ
Man würde doch glauben, dass bei einem Gesetz dieser Dimension mehr Konsens seitens der Bevölkerung und anderer Parteien gesucht würde, anstatt es brachial durchzuziehen, nur um vor den Europawahlen Renzis Handlungsfähigkeit zu demonstrieren.
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Zweitens, erkennt das Gesetz tatsächlich erstmalig die Besonderheit der drei Provinzen an, die „interamente montane e confinante con territoriali di altri Paesi“ (also auf gut Italienisch: Sondrio, Verbano-Cusio-Ossola und Belluno), nur sind die zugesagten Sonderrechte lächerlich und beschränken sich, wenn im Text auch auf viele „Comme“ aufgeblasen, letztendlich auf zwei Punkte. Originaltext:
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a) cura dello sviluppo strategico del territorio e gestione in forma associata di servizi in base alle specificità del territorio medesimo;
b) cura delle relazioni istituzionali con province, province autonome, regioni, regioni a statuto speciale e enti territoriali di altri Paesi, con esse confinanti e il cui territorio abbia caratteristiche montane, anche stipulando accordi e convenzioni con gli enti predetti;
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Wobei natürlich besonders zweiterer bei uns als Nachbarprovinz zweier der genannten auf Interesse stoßen dürfte/sollte.
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Drittens rechnet der UPI (Unione delle Province d’Italia) fein säuberlich vor, dass das als „Provincellum“ verspottete Gesetz nicht etwa zu Einsparungen, sondern zu Mehrausgaben führt. Siehe "E' mancato il coraggio per una vera riforma"
http://www.upinet.it/4260/istituzioni_e_riforme/province_saitta_accorpa…
und „ Quanto costa il Disegno di Legge”
http://www.upinet.it/docs/contenuti/2013/10/DossierUpi_+Costi-Democrazi…
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Viertens führt das Gesetz unmittelbar zu schlechterem Service an den Bürgern (vergleiche die Funktion der Landkreise in Deutschland), widerstrebt jeglichem Föderalismuskonzept, schwächt die Demokratie (der Bürgermeister der größten Stadt stellt quasi automatisch den fürsorglichen Landeshauptmann – forza Gigi!) und schwächt natürlich die Interessen der Provinzen durch die Doppelbelastung der Bürgermeister und zwar ausdrücklich ohne zusätzliche finanzielle Anreize. Landeshauptmannschaft ist also ein Ehrenamt. Jene Bürgermeister, welche den Provinzrat ehrenamtlich stellen dürfen, müssen alle zwei Jahre durchrotieren, womit politischer Arbeit jegliche Kontinuität genommen wird.
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Fünftens ist hervorzuheben, dass unsere politischen Vertreter in Rom zwar die Sonderstellung der nördlichen Autonomien mit etlichen Klauseln sichergestellt haben, dass deren Solidarität zu unseren Nachbarprovinzen aber derart schäbig war, dass unsere Autonomie jetzt seitens Venetiens (auch auf Druck der politischen Rechten in Belluno und Sondrio) verklagt wird.
http://corrierealpi.gelocal.it/cronaca/2014/03/26/news/autonomia-guerra…
In reply to Provincellum by Benno Kusstatscher
Interview mit Antonino Saitta
Antonino Saitta, seinesgleichen Präsident UPI und Präsident der Provinz Turin (DC, PPI, PD)
http://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=9bcEX-ZRFXw
Ich bin begeistert
Die Abschaffung von Verwaltungsstrukturen ist eine gute Sache.
In reply to Ich bin begeistert by Alfonse Zanardi
Ach so?
Alfons, dann würdest Du es auch gut finden, wenn der Südtiroler Landtag samt Regierung und LH abgeschafft würde und sich statt dessen unsere Bürgermeister in ihrer Freizeit treffen dürften, um unentgeltlich selbiges zu erledigen? Oder ist Subsidarität und Selbstbestimmung nur im eigenen Fall sexy und bei allen anderen rein als eine finanzielle Last zu verstehen?
In reply to Ich bin begeistert by Alfonse Zanardi
Selbstverwaltung sorry
vor lauter Diskussionen... Selbstverwaltung sollte das heißen nicht Selbstbestimmung
In reply to Ich bin begeistert by Alfonse Zanardi
@ Benno
Im Prinzip ja (zur ersten Frage).
Ich empfinde schon seit Jahren die Überbetonung und Aufblähung lokaler politischer Strukturen als eher schädlich als nützlich für das Allgemeinwohl.
Ich meine damit das was man allgemein als Landesfürstentum bezeichnet, wie es bei uns unter Durnwalder und z.B. in Österreich unter Haider und Pröll praktiziert wurde und wird.
Subsidiärität und Föderalismus sind sicherlich ernsthafte Konzepte aber in der Umsetzung zumindest in unseren Breiten sehe ich mehr Schatten als Licht, wie auch hier ausgeführt wird: http://www.salto.bz/de/article/12032014/autonomie-ein-scherbenhaufen
In Österreich beispielsweise steigt die Macht der regionalen Elite zusehends und verhindert Veränderung und Reform aus dem Zentrum heraus. In Südtirol hat die Politik ihr Kerngebiet weit hinter sich gelassen und sich u.a. in bester staatswirtschaftlicher Tradition als (unfairer) Player im freien Markt installiert: "Erich selig, der VEB lebt, zumindest zwischen Brenner und Salurn."
Schliesslich finde ich auch gesellschaftlich einen aufdringlichen lokalen Staatsapparat als kontraproduktiv. Die Bevölkerung beginnt die Bedeutung lokaler Vorgänge zu überschätzen und verschliesst den Blick auf eine weitaus grössere Welt. Und wo der Staat - denn unser "Land" ist nichts anderes - fast alles kontrolliert, wird der Einzelne zu Konformismus und Katzbuckelei gedrängt um nicht aussen vor zu bleiben.
Deswegen plädiere ich für eine Konsolidierung und auch mehr Zurückhaltung dieser Apparate - um dem Einzelnen mehr Freiheit und Raum für interessantere Aspekte der Realität zu ermöglichen.
In reply to Ich bin begeistert by Alfonse Zanardi
@ Mateo
Gestehe zu dass ich nicht sehr exakt in meiner Knappheit war: ich meine vor allem den politischen Arm der regionalen Struktur, dessen Vereinfachung ich begrüsse.
Auf der gesellschaftlich-kulturellen Ebene hingegen finde ich regionale Besonderheiten und Vielfalt als großen Reichtum der nicht genug betont werden kann.
In reply to Ich bin begeistert by Alfonse Zanardi
@Alfons
Da gebe ich Dir nicht Unrecht, aber ich finde, Du vermischt da zwei Themen, in der Gefahr mündent, kontraproduktiv zu werden. Speck gibt es subsidar und zentral und kann/muss hier wie dort kritisiert werden. Aber die Logik nach Zentralstaat zu rufen, weil es lokalen Speck gibt, ist nicht anders, als Sezession auszurufen, nur weil die zentrale Verwaltung verbesserungswürdig ist.
Adige Blog zum Thema
Aus dem Adige Blog von Zenone Sovilla:
http://www.ladige.it/blogs/autonomisti-affossano-autonomie-0
empfehlenswert, find ich...