Society | Psychiatrie

Möglichst untraumatisch

Der Primar der Psychiatrie Bruneck Roger Pycha in einem Gastbeitrag über die Zwangsbehandlungen und die deutliche Abnahme dieser Maßnahmen in Südtirol..
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Foto: upi
Am 19. März fand im Bozner Landhaus eine Zusammenkunft zwischen Vertretern der Selbsthilfevreinigungen psychisch Kranker und den Primaren der Psychiatrien Südtirols statt, die von der Volksanwältin Gabriele Morandell einberufen worden war. Die Selbsthilfevereine der Betroffenen und der Angehörigen, „Lichtung“ und „Ariadne“, hatten als Hauptthema die Zwangsbehandlungen gewählt, die möglichst untraumatisch und möglichst selten stattfinden sollten.
 

Legge Basaglia

 
Bis zum Jahr 1968 erfolgten alle Aufnahmen in Italiens Psychiatrien zwangsweise, und die Betroffenen verloren dadurch all ihre bürgerlichen Rechte. Erst das große Psychiatrie-Reformgesetz Nr. 180 aus dem Jahr 1978 (legge Basaglia) regelt die Zwangsbehandlung im Krankenhaus neu und human.
Dabei steht das Recht auf Heilung und Gesundheit einer Person im Vordergrund. Es geht nicht mehr so sehr darum, Gefahren, die von ihr ausgehen, zu bannen. Nur wenn psychisch erkrankte Personen dringender Behandlung bedürfen, wenn sie diese verweigern und Maßnahmen außerhalb des Krankenhauses nicht möglich sind, können sie durch eine Verordnung des Bürgermeisters gegen ihren Willen in die zuständige Abteilung für Psychiatrie gebracht werden.
 
 
In der Folge sinkt die Anzahl der Zwangsbehandlungen an den psychiatrischen Abteilungen Italiens von ca. 50 % im Jahr 1975 auf 13 % im Jahr 2001.
Dazu ist die Befürwortung und Begründung zweier Ärzte nötig, von denen einer dem öffentlichen Gesundheitswesen angehören muss. Der Bürgermeister beauftragt die Ordnungskräfte mit der Durchführung und muss seine Verfügung dem Überwachungsgericht melden, das sie bestätigen oder außer Kraft setzen kann.
Jede beliebige Person hat das Recht, bei Gericht die Unrechtmäßigkeit der unfreiwilligen Einweisung anzuzeigen. In der Folge sinkt die Anzahl der Zwangsbehandlungen an den psychiatrischen Abteilungen Italiens von ca. 50 % im Jahr 1975 auf 13 % im Jahr 2001.
 

Eine Ausnahmesituation

 
Gut funktionierende, gemeindenahe psychiatrische Dienste machen Zwangsbehandlungen selten. Sie stellen inzwischen seltene Ausnahmesituationen dar, die mit größter Kompetenz und so wenig traumatisch wie möglich bewältigt werden sollen. Dies gilt umso mehr für den Fall, in dem es Kinder oder Jugendliche betrifft.
In Italien sind bei ca. 6.000 Psychiatrieaufnahmen von Minderjährigen pro Jahr durchschnittlich 70 Zwangseinweisungen, das sind nur 1,2 % aller Aufnahmen.
Auf Durchführungsbestimmungen zum Psychiatriereformgesetz hat man allerdings über 30 Jahre umsonst gewartet. In verschiedenen Regionen wurde das Gesetz unterschiedlich interpretiert. 2009 endlich hat die Konferenz des Staates und der Regionen entsprechende Leitlinien erlassen, an deren Erstellung ich mitwirken durfte. Die Südtiroler Landesregierung hat diese Empfehlungen am 13. September 2010 mit Beschluss Nr. 1516 übernommen.
Sie halten klar fest, dass die Zwangsbehandlung keine geeignete Maßnahme ist, um einen lebensbedrohlichen Notfall zu behandeln oder das Leben unzurechnungsfähiger Personen zu retten. In diesem Fall müssen Ärzte nach eigenem Ermessen sofort handeln, um nach bestem Wissen und Gewissen die Gefahr zu bannen, indem sie zum Beispiel bei einem Tobsuchtsanfall Beruhigungsmittel verabreichen.
 
 
Es steht fest, dass die Zwangsbehandlung keine geeignete Maßnahme ist, um einen lebensbedrohlichen Notfall zu behandeln oder das Leben unzurechnungsfähiger Personen zu retten.
Eine Zwangsbegutachtung kann hingegen auf begründete Empfehlung eines Arztes vom Bürgermeister der zuständigen Gemeinde verordnet werden, wenn der Verdacht auf eine dringend behandlungsbedürftige psychische Störung vorliegt, aber der Betroffene sich jeder Untersuchung entzieht. Dieser Beschluss muss keiner Behörde gemeldet werden und wird von den Ordnungskräften, die vom Bürgermeister den Auftrag erhalten, durchgeführt. Sie bringen den zu Begutachtenden zum vereinbarten Zeitpunkt zum zuständigen Psychiatrischen Dienst. Dagegen kann jede beliebige Person beim Bürgermeister Rekurs einlegen.
 

Ambulante Zwangsbehandlung

 
Als Alternative zur Zwangseinweisung an die Psychiatrie kann auch eine ambulante Zwangsbehandlung erwogen werden. Immer falls der Patient dringend behandlungsbedürftig ist und die Therapie verweigert, aber angemessene Maßnahmen zum Beispiel bei einem Hausbesuch oder im Rahmen einer Visite am Zentrum Psychischer Gesundheit gesetzt werden können, wie zum Beispiel die Verabreichung von intramuskulären Depotspritzen, kann ein Arzt begründet um ambulante Zwangsbehandlung ansuchen und dabei Ort und Zeitpunkt der Maßnahmen angeben. Der Bürgermeister kann die Behandlung verfügen und beauftragt in diesem Fall die Ordnungskräfte, den Patienten an die Psychiatrie zu bringen oder die Mitarbeiter der Psychiatrie zum Hausbesuch zu begleiten. Auch diese Maßnahme muss keiner weiteren Behörde gemeldet werden.
Beide zusätzlichen Vorkehrungen folgen dem Grundsatz, dass in seltenen Fällen die Pflicht, zum Wohle eines Bürgers zu handeln, noch wichtiger ist als sein Recht auf Freiheit.
 

Die Abnahme

 
Diese neuen Alternativen und die besondere Einfühlsamkeit, mit der Mitarbeiter der Psychiatrien Südtirols schwierigen Situationen begegnen, senken die Häufigkeit von Zwangsbehandlungen in Südtirol weiter.
Sie sind von 11,6 % aller Aufnahmen an Psychiatrien im Jahr 2002 auf 5,5% im Jahr 2010 gesunken.
 
 
Mit 0,22 Zwangsbehandlungen auf 10.000 Einwohner hat Südtirol ohnehin eine der niedrigsten Quoten ganz Italiens.
Eine weitere Abnahme auf nur 2% konnte 2017 im Rahmen einer eingehenden Untersuchung an der Psychiatrie Bruneck festgestellt werden und entspricht mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Trend im ganzen Land.
Mit 0,22 Zwangsbehandlungen auf 10.000 Einwohner hat Südtirol ohnehin eine der niedrigsten Quoten ganz Italiens.
Über diesen Umstand sehr zufrieden, haben die Beteiligten beschlossen, in Zukunft Gespräche zwischen zwangseingewiesenen Patienten und Mitarbeitern der Psychiatrien zu ermöglichen, die von Vertretern der Selbsthilfe vermittelt und moderieret werden. Sie sollen das Verständnis beider Seiten füreinander fördern und traumatische Erlebnisse besser verarbeiten helfen.