Culture | Salto Weekend

Die Gewalt der weiblichen Performance

Teil II nach der Folge zu Elfriede Jelinek vom vergangenen Sonntag. Geschlechterstereotypen auf dem Körper von Marina Abramović sind die auf den Körpern aller Frauen.
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Foto: Wikipedia

In den frühen 1960er-Jahren etablierte sich in den Künsten der westlichen Kultur eine performative Wende. Die Herausbildung einer neuen Kunstgattung, der sogenannten Aktions- und Performance-Kunst, führte zu einer neuen künstlerischen Konzeption: Werke im engeren Sinne wurden durch Aktionen und Performances, d. h. durch Erfahrungen ersetzt. Die Performance-Kunst ist von Anfang an als eine hybride künstliche Form zwischen figurativer Kunst und experimentellem Theater entstanden, und der Fokus richtete sich auf das Werden des Werks und das Ereignis. Als allgemeine Definition gilt, dass Performance einer Handlung oder einer Reihe von Handlungen entspricht. Nicht unterschiedslos alle Handlungen, sondern die die intentional und nicht automatisch vollzogen werden und vor einem Publikum gezeigt oder durchgeführt werden müssen. Werke im traditionellen Sinn werden durch Ereignisse ersetzt, in denen nicht nur die Künstler*innen selbst, sondern auch das Publikum involviert sind. Die Künstler*innen werden häufig selbst Bestandteil des Werkes und ihre Körper werden als künstlerisches Medium benutzt bzw. verstanden. Dies passiert, weil es um Erfahrungen geht und nicht um das Verständnis des Kunstwerks. Dies ist genau das, was Marina Abramović schafft: Eine Situation, die kein materielles Artefakt ist, sondern ein Produkt, das von Körperlichkeit, Räumlichkeit, Lautlichkeit und Zeitlichkeit abhängig und nicht wiederholbar ist. Performative Kunst schlägt eine neue Vision der Kunst vor: Sie will zeigen, wie die Kunst mit dem Leben übereinstimmt und wie es keine Distanz mehr zwischen diesen beiden Welten gibt.

Marina Abramović

Im Jahr 1946 in Belgrad geboren, stammt Marina Abramović aus einer kommunistischen Familie der Nachkriegszeit. Sie wuchs in der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien unter dem Diktator Josip Broz Tito auf, ein wesentlicher Faktor, der ihre Kunst-Performances beeinflusste. Ebenfalls in Belgrad begann am Ende der 1960er- bzw. Anfang der 1970er-Jahre ihre künstlerische Karriere. Sie wurde, und ist noch, eine der bedeutendsten Vertreter*innen der Performance-Kunst, die sich in den meisten ihrer Performances auf ihren Körper konzentriert: Sie zeigt sich radikal, provokativ, kontrovers und außerhalb der künstlerischen Normen seit mehr als fünfzig Jahren. Abramović versucht ständig in ihren Performances, ihre physischen und psychologischen Grenzen zu überwinden.

Von zentraler Bedeutung waren die Performance-Serien Rhythm (1973–74) und Freeing (1975–76). Darin erforschte Abramović Klang, Stimme und Sprache. Körperliches Risiko kennzeichnete ihre frühen Auftritte, von denen einige unterbrochen wurden, um die Sicherheit der Künstlerin zu gewährleisten. In zahlreichen Aufführungen präsentiert sich die serbische Künstlerin nackt oder überlässt ihren Körper passiv dem Publikum. Wie die Künstlerin, die zum Objekt ihrer Werke wird, kann ihr Künstlersein nicht von dem getrennt werden, was sie ist. Die Aktionen, die sie ausführt, sollen zeigen, wie der Körper tatsächlich mit sich selbst übereinstimmt. Die Künstlerin ist das Kunstwerk selbst: Sie wird gleichzeitig Subjekt und Objekt. Ihre Performance-Kunst lässt sich als Überwindung bestimmter Codes definieren, wobei die Erfahrungen, die sie schafft und erlebt, die auferlegten normativen Codes sprengen. Insbesondere versucht sie oft, aus der dem Subjekt ‚Frau‘ auferlegten Normalisierung auszubrechen. Ihr Körper wird in seiner gesamten Weiblichkeit durch Nacktheit gezeigt. Aber die Weiblichkeit ihres Körpers deckt sich jedoch nicht mit den Handlungen der Performances, die das Publikum destabilisieren und schockieren. Gerade weil die Frau in ihrem eigenen Körper gefangen ist, wird der Körper der Künstlerin zum Ausgangspunkt, von dem aus sie sich von diesen Grenzen befreien und eine andere Darstellung präsentieren kann. Abramović spielt nämlich mit Tabus und gesellschaftlichen Codes, die sich auf dem Körper widerspiegeln. Der Körper, der nicht bestimmten Kanons entspricht, wird gesellschaftlich ausgeschlossen.

Rhythm 0

Rhythm ist eine Serie von Solo-Performances, die in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre entstanden sind, und in denen die Künstlerin extreme Performances zeigte. Rhythm 0 ist eine von ihnen. Die Performance fand 1974 in der Kunstgalerie Studio Morra in Neapel statt, wo die Künstlerin dem Publikum Instruktionen gab, wie es weiter vorgehen sollte:

Auf dem Tisch befinden sich 72 Gegenstände, die man nach Belieben an mir verwenden kann.

Ich bin der Gegenstand.

Während dieser Zeit übernehme ich die volle Verantwortung.

Im Raum befanden sich also nur das Publikum, die Künstlerin und der Tisch mit den Objekten, darunter Instrumente der Lust, andere des Schmerzes. Die Performance dauerte sechs Stunden, von 20 bis 2 Uhr. Die Künstlerin setzte sich passiv dem Publikum aus, das sie nach Belieben missbrauchen und sie als Objekt behandeln konnte. Als die Stunden vergingen und das Publikum merkte, dass sich die Künstlerin tatsächlich ihrem Willen unterwarf, wurde die Performance immer gewalttätiger und die Aggression gegenüber Abramović nahmen zu. Abramović ließ ihren Körper auf jede Art und Weise missbrauchen, mit den dem Publikum zur Verfügung stehenden Objekten. Die meisten davon wurden benutzt, um sie zu verletzen. Je mehr das Publikum verstand, dass die Künstlerin passiv blieb, desto mehr nahm die Gewalt im Laufe der Zeit zu. Mehrere Schnittverletzungen wurden ihrem Körper zugefügt, einschließlich ihrer Kehle, und ihre Kleidung wurde zerschnitten, sodass sie halb nackt blieb. Der Höhepunkt war erreicht, als man ihr die Pistole in die Hand drückte und auf ihre Schläfe zielte, aber um das Schlimmste zu verhindern, entfernte ein Zuschauer sie sofort, wie Abramović erzählt:

Am Anfang hat das Publikum wirklich sehr viel mit mir gespielt. Später wurde es mehr und mehr aggressiv. Es war sechs Stunden lang der echte Schrecken. Sie schnitten mir die Kleider auf. [...]. Und jemand hat sogar die Kugel in die Pistole gesteckt und in meine Hand gelegt, um zu sehen, ob ich abdrücke, ihre Hand gegen meine Hand, ob ich Widerstand leisten würde.

Nach sechs Stunden endete die Performance, die Künstlerin begann, sich zu bewegen, und das Publikum lief aus dem Raum:

Aber ich erinnere mich, dass ich nach sechs Stunden, als der Galerist kam und sagte, dass das Stück fertig sei, anfing, allein zu sein und nackt und mit Blut und Tränen in den Augen durch das Publikum zu laufen, und alle rannten weg, buchstäblich aus der Tür.

Die Künstlerin verwandelte sich vollständig in ein Objekt, das von jeder Person im Publikum manipuliert werden konnte. Abramović erzählt, dass diese Performance eine der schwierigsten war, da nichts von ihr abhing, sondern nur von anderen. Das Objekt, das Marina Abramović in den Mittelpunkt stellte, war jedoch ein weiblicher Körper, ein Element, was sicherlich eine grundlegende Rolle spielte. Das Publikum wurde nicht nur mit dem Körper einer Frau konfrontiert, sondern auch mit einer Reihe von Stereotypen und Geschlechterdiskursen, die damit verbunden sind. Der subversive Charakter der Performance liegt gerade darin, dass sie eine eigene neue Bedeutung schafft, indem sie bestimmte Muster und Stereotypen unterbricht, durch die der Körper eingegrenzt ist. Mithilfe der Performance kann der Körper tatsächlich seine eigene Erzählung verändern und einen Weg finden, umgeschrieben zu werden.