Die Sehnsucht nach Sommermärchen
Sommermärchen ist eine Verklärungsmetapher, die genutzt wird, um unerwarteten sportlichen Erfolgen Glanz zu verleihen und einen Ehrenplatz in der Historiografie zu verleihen. Der Dokumentationsfilm mit diesem Titel zum Auftritt der deutschen Fußballnationalmannschaft im Jahr 2006 erwies sich als überaus erfolgreich und etablierte eine neue Strategie des medialen Meinungsdesigns. War das „Wunder von Bern“ noch eine treffende Charakterisierung eines völlig überraschenden Sieges der deutschen Fußballmannschaft, so entsprach die Überzeichnung des Auftritts der deutschen Fußballnationalmannschaft im Jahr 2006 vor allem einem Marketingziel: Den sportlichen Darbietungen sollte in jedem Falle eine positive Rezeption in der öffentlichen Wahrnehmung reserviert werden. Dadurch sollten marktgängige Unterhaltungsangebote gegen die kritische Larmoyanz nie zufriedener Zeitgenossen immunisiert werden und mit der gewünschten Tiefenwirkung ihre Distraktionsaufgabe erfüllen können.
Inspirationsquelle waren u.a. die Erfahrungen von Jürgen Klinsmann mit dem allgemeinen Stimmungsbild in den Vereinigten Staaten. Ein prägender Impuls seines psychologischen Ansatzes als Trainer der deutschen Fußballnationalmannschaft war es, in Anlehnung an die amerikanische Unbekümmertheit die melancholische Grundstimmung der deutschen Nation zu überwinden. Gestützt auf ein gesundes Selbstbewusstsein und das Vertrauen auf die eigene Tatkraft und Zielstrebigkeit sollte allen derselbe neue Zeitgeist eingeflößt werden, der im Selbstbild der USA zum Ausdruck kommt. Er kann am Beispiel des bereits 1989 aufgenommenen Lieds der Artists United for Nature „Yes we can“ festgemacht werden, das dann 2008 als Wahlkampfmotto von Barack Obama erkoren worden ist.
Die Leistungen der deutschen Fußballer waren 2006 nicht viel mehr als mittelprächtig und Jürgen Klinsmann blieben als Trainer große fußballerischer Erfolge versagt. Aber die Marketingstrategie des Schönredens ist inzwischen im Fußball wie in anderen Sportarten medialer Vermittlungsstandard. Dank dieses Rezeptionsprofilings dürfen Spieler*innen und Trainer*innen inzwischen Journalist*innen über den Mund fahren, wenn sie „unangemessene“ Fragen stellen.