Culture | Salto Afternoon

The Missing Mies

Nach fast 70 Jahren wird ein vergessener, ungebauter Plan des Architekten Ludwig Mies van der Rohe in Bloomington (USA) wiederbelebt. Erdacht wurde das Haus in Oberbozen.
Mies1
Foto: The Wall Street Journal

Ein noch nie entdeckter Plan von Mies van der Rohe wurde tatsächlich wiederbelebt.
The Wall Street Journal, 22. Sept. 2021


Die ganze Welt bestaunt einen nie umgesetzten Plan des bekannten Architekten Ludwig Mies van der Rohe. 20 Millionen Dollar spendeten unterschiedlichste Institutionen, private Firmen und ehemalige Studenten der Indiana University in Bloomington (USA) für die Errichtung eines Baudenkmals. 
Und in Südtirol? In Oberbozen, am Ritten? Auch dort finden sich Spuren zum ungebauten Plan des Mountain Houses und natürlich zum großen Meister. „Es ist, als würde man einen Rembrandt in einer Schreibtischschublade finden“ betonen Student*innen und Expert*innen der Indiana University Bloomington im Zusammenhang mit der speziellen Bau-"Unternehmung".


Es stellt sich die Frage: Was könnte Südtirol mit Mies' architektonischem Erbe (in welchem Oberbozen eine nicht unbeträchtliche Rolle spielt) anfangen? Wissen die Südtiroler*innen einen derartigen "Rembrandt-Schatz" überhaupt zu schätzen?
Sogar zeitgenössische Künstler wie der US-Amerikanischer Rapper Kanye West suchte Inspiration in Mies' Schaffen als er im August 2016 seinen Creative Director, den jungen Architekten Virgil Abloh, fragte: „How do you spell «Mies van der Rohe»?“  – und diesen Satz sogar in einem Song vertonte. Auch weitere Künstler wie Christo & Jeanne-Claude, Dan Graham oder Yves Klein fanden und finden die Gebäude und Mies' Credo «Less is more» hochaktuell und entwickeln daran angelehnt neue Kunstwerke. Das Buch 100 Artists Comment on the Work of Mies van der Rohe spricht dazu Bände.

 

Das bekannteste Wochenendhaus

Am 31. Dezember 1950 verbrachte die Ärztin und Bauherrin Edith Brook Farnsworth die erste Nacht in ihrem gerade fertiggestellten Ferienhaus in Plano (Chicago), dem bekanntesten Wochenendhaus der Welt – im Farnsworth House. Einige Details waren noch nicht fertig ausgeführt, jedoch bemerkt die wohlhabende Chicagoer Ärztin ziemlich rasch, dass ihr Haus nicht gut funktioniert. Sie bemerkte nachts, wenn es draußen kalt war, Kondenswasser auf den Scheibeninnenseiten. Tagsüber, wenn die Temperatur wieder gestiegen war und die Sonne schien, stiegen im Haus (wegen des innenliegenden Sonnenschutzes) die Temperaturen ins Unerträgliche. Zudem konnte man draußen auf der Veranda kaum sitzen und sie musste einen Mückenschutz um das Haus bauen. Frau Edith kämpfte mit dem Haus so sehr, dass sie begann Gedichte über dieses Haus zu verfassen. Ein Auszug:

Die Morgendämmerung war nah, als ich aufwachte und hörte, wie ein fliegendes Wesen gegen die Glasscheibe schlug, (...) Ich konnte das verletzte fliegende Ding nicht sehen, aber ich konnte den flatternden, brechenden Flügel hören.

Weiter erzählte sie 1953 in einem Interview für das Magazin House Beautiful, sie finde ihr Glashaus hätte einen beschränkten Wohnkomfort. Frau Edith Farnsworth ging somit einen Schritt weiter und stellte die Leistungen des Architekten und den reellen Wert des Hauses zur Diskussion und zog gegen Mies van der Rohe tatsächlich vor Gericht. 
Die Anklage lautete: Schwindel und Betrug. 1953 beschäftigte dieser Fall ganz Amerika und hochrangige Anwälte und Begutachter mussten das Farnsworth House nach nachhaltigen Ansätzen wie Nutzerkomfort und Gebrauchstauglichkeit abschätzen und in messbaren Größen einordnen.


Auch in Südtirol widmen sich Expert*innen und Architek*innen dem Mountain House von Mies van der Rohe. Gegenwärtig werden große Konzepte über die Berge Bozens hinweg geschmiedet, um mit einem ansprechenden Projekt zu Mies van der Rohe und Südtirol, die lokale Kultur- und Architekturszene, die Forschungszentren, die Design-Fakultäten und den Tourismus bestmöglich einzubinden und für die Sache zu vernetzen. Damit könnte durch Innovation auch die Bauwirtschaft gefördert und mit einem interessanten (und internationalen) Thema bespielt werden. Selbst der Enkel von Mies, der Architekt Dirk Lohan, der selbst die Urheberrechte an den Werken von Mies besitzt, betonte bei seinem Treffen mit der Kunsthistorikerin Sabine Gamper und Ivan Bocchio (im Juli 2019 in Chicago): „Auf der Horizontalen haben viele Städte einen echten Mies, jedoch in der Vertikale – auf dem Berg – hat nur Südtirol einen Mies“. 


Südtirol wartet also darauf das Mies-Projekt wieder- bzw. neu zu k8beleben – dabei soll auch Mies' Schaffen nach nachhaltigen Ansätzen und ökologischen und ökonomischen Größen abgeschätzt und analysiert werden.
Der Kongress Digitalization meets Sustainability  (7. Oktober 2021, Klimahouse 4.0 in Bozen) lädt demnächst zu einer spannenden Zeitreise. Vom Bauen in der Vergangenheit über die Bau-Standards von heute, bis zum Bauen von morgen, wird es vor allem auch darum gehen wie nachhaltige und digitale Elemente verknüpfen werden können. Fünf Top Speaker von führenden internationalen Architektur-Fakultäten und Studios (Mariana Popescu: TU Delft Faculty of Civil Engineering and Geosciences, Mathilde Marengo: Institute of Advanced Architecture Catalonia/Barcelona, Ivan Bocchio: ETH Zürich, Cristina Greco: Founder Unlimited Studio & BIM Manager, Steffen Feirabend: University of Applied Science Stuttgart (HFT), David Calas, Moderation: Studio Calas Vienna / GIU Berlin) werden über die neuesten Herausforderungen im Bereich der internationalen Innovation und Nachhaltigkeit des Bausektors berichten.