Frankreich liefert Terroristen aus
Es ist eine überraschende Nachricht: die französische Justiz hat zehn Haftbefehle gegen ehemalige Mitglieder italienischer Terrororganisationen erlassen, die nach tödlichen Anschlägen in Italien ins Nachbarland geflüchtet waren. Sieben wurden verhaftet, drei konnten fliehen. Die Aktion ist offenbar Ergebnis eines in den letzten Wochen erfolgten Telefongesprächs zwischen Regierungschef Mario Draghi und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Faktisch bedeutet der nun erlassene Haftbefehl das Ende der heftig umstrittenen Mitterand-Doktrin. Der damalige sozialistische Präsident hatte in Italien gesuchten Linksextremisten in den Siebziger und Achziger Jahren Asyl gewährt und sie damit der Verfolgung durch die italienische Justiz entzogen. Mehrere Dutzend fanden in Pariser Kulturkreisen Arbeit. Der prominentste unter ihnen war Cesare Battisti, der sich als Krimi-Autor profilierte, bevor er nach Südamerika floh und von Brasilien ausgeliefert wurde.
Italiens Justizministerin Marta Cartabia hatte das Thema letzthin mit ihrem französischen Amtskollegen Eric Dupond besprochen, der sich dabei für die bisherige Haltung seines Landes entschuldigt haben soll. Alle Verhafteten sind über 70 und sollen nun an Italien ausgeliefert werden. Unter ihnen befindet sich der 77-jährige Giorgio Pietrostefani, der an der Ermordung des Polizeikommissars Luigi Calabresi im Mai 1972 beteiligt war. Mario Calabresi, Sohn des Mordopfers und langjähriger Chefredakteur des Tageszeitung La Stampa, zeigt sich überrascht: "Confesso di essere rimasto sorpreso. Se n'era parlato molto negli ultimi anni, ma non pensavo che non sarebbe mai accaduto. Come mia madre ed i miei fratelli, non riesco a provare alcuna soddisfazione. L'idea che un uomo anziano e molto malato vada in galera non è di alcun risarcimento per noi." Calabresis Witwe Olga D'Antona verweist darauf, dass die damals von Mitterand garantierte Straflosigkeit von den Vertretern des französischen Kulturlebens begrüsst worden sei. Fanny Ardant etwa habe sie als Helden gefeiert.
Zu den jetzt Verhafteten gehört auch der 77-jährige Giorgio Pietrostefani, der eine Strafe von 14 Jahren verbüssen muss. Pietrostefani war einer der Mitbegründer von Lotta Continua. Wegen Beteiligung an der Ermordung Calabresis war er zu 22 Jahren Haft verurteilt worden. Nach zwei Jahren Haft konnte er aus dem Gefängnis fliehen und setzte sich nach Frankreich ab. Jetzt ist er 78 und schwer krank. Nun, so die Tageszeitung La Stampa in ihrem Leitartikel, könne ein dramatisches Kapitel der italischen Geschichte abgeschlossen werden: "Era ora che si dicharasse la fine di un'epoca, distogliendo lo sguardo da un brutto passato per aprirne un altro, possibilmente migliore. Un'augurabile opportunità che si può cogliere solamente con la sincera confessione delle colpe, degli errori, dei fiancheggiamenti che hanno disseminato tra gli anni 70 e 80 tanti lutti e tanta disperazione." Die wahren Gründe für die Auslieferung einiger Siebzigjähriger wenige Tage vor Verjährung ihrer Morde dürften freilich innenpolitischer Natur sein. Vor den Präsidentenwahlen dürfte Macron angesichts sinkender Umfragewerte Interesse daran haben, sich bei konservativen Wählern als entschlossener Terrorgegner zu profilieren. Der Sohn des ermordeten Kommissars Calabresi erwartet sich gründliche Aufklärung: "Ci mancano importanti pezzi di verità".