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Wunderschöne Lügen

Veronica Raimos “Niente di vero” ist witzig. Und regt dazu an, die eigenen Tragödien neu zu erzählen.

Nach Jesolo, im Juni. Und zwar mit dem Fahrrad. Dass mich dieser doch recht österreichisch-ungarisch geprägte Wunsch in eine pulsierende Ader der italienischen Literatur führen würde, wusste ich damals noch nicht, als ich mich mit gepolstertem Hintern auf den Fahrradsattel schwang. Die ersten beiden Tage verliefen schleppend aber reibungslos. Der dritte verlief sich im Sand — und zwar nicht dem vom Lido di Jesolo: Ich blieb nämlich mit triefender Nase und periodisch wiederkehrendem Schüttelfrost im Hotelzimmer hängen, in dem ich am Vortag den Regen abgeduscht hatte.

Weiter ging nicht. Zurück auch nicht. Ich musste mich also mit dem wenigen Gepäck abfinden, das, um kompakt aufs Fahrrad zu passen, jeglichen Firlefanz wie Stifte oder Bücher vermissen ließ. Als ich in einer Ecke des Hotelzimmers Veronica Raimos “Niente di  vero” entdeckte.

Ich schlage auf: “Mio fratello muore tante volte al mese.” Der erste Satz des für Einaudi erschienene Buches, das — wie ich später feststellen sollte — 2022 den Premio Strega Giovani gewonnen hatte, schlägt ein. Ein Satz, der an Albert Camus “Aujourd’hui, maman est morte” erinnert. Und der schon im nächsten seine Affinität zu Camus bestätigt: “È mia madre a chiamare per avvertirmi della dipartita. — Tuo fratello non mi risponde al telefono.”

“Funny”, denke ich. Und werde, ohne das Buch auch nur aufzublättern, sofort in den Sog des Romans gezogen. Ich verschlinge Satz für Satz. Lache laut auf. Glaube der Autorin, wenn sie aus der Ich-Perspektive von ihrer Familie erzählt. Und gerate dann doch ins Zweifeln, wenn sie berichtet, wie sie sich so tief in ihre eigene Lüge steigert, dass sie den Tod ihres noch lebendigen Vaters beweint; oder sich drei Jahre lang nur von Dosenfutter ernährt. Dass der Zweifel berechtigt ist, wird spätestens auf S. 131 wahr: Vor der Wahrheit fürchte sie sich mehr, als vor dem Tod, gibt die Autorin hier endlich zu. Ob das stimmen mag?

 

Wunden, die wie Feuer brennen, sich aber Raimos beißenden Humor ergeben müssen.

 

So dreht sich Raimos “Bildungsroman” immer wieder um sich selbst, um sich erst von ganz nah und dann wieder lachend von außen zu betrachten. Dabei arbeitet die 1978 in Rom geborene Autorin nicht nur lustige Themen ab: Sexuelle Belästigung, die Entdeckung der weiblichen Lust, fehlende Sexualbildung, Helikoptereltern, der Tod des Vaters, Trennungen und der Verlust einer Freundschaft. Wunden, die wie Feuer brennen, sich aber Raimos beißenden Humor ergeben müssen. Immer wieder rutscht die Autorin ins Absurde. Und immer wieder bleibt Raimo genau dann, wenn das, was sie sagt, keiner Realität entsprechen kann, ganz nah am Menschen: Die Nähe, die sie zu den Figuren ihres Romans verspürt, leuchtet dann durch die Zeilen.

Am Ende bleibt Stuss. Fantasie. Und ganz viel Liebe, die ich mit nach Jesolo nehme. Zum Strand, wo ich dann, nach kurzer, krankheitsbedingter Pause, doch noch versanden darf. “Bellissima!”, ruft ein altösterreichischer Badegast zu mir aufs Handtuch herüber. Ich hebe das aus dem Hotelzimmer entwendete Buch und schwenke es durch die Luft: “Bellissima, davvero!”